Im Stuttgarter Nord inszeniert der junge polnische Regisseur Krzysztof Garbaczewski „Caligula“ von Albert Camus. Die Aufführung verlangt dem Schauspiel enorme darstellerische und technische Ressourcen ab – und dem Publikum viel Geduld.

Stuttgart - Puh! Aufatmen und durchatmen: der „Caligula“, der jetzt im Nord zu sehen ist, erweist sich als harte, anstrengende Sitzung. Unter der Intendanz von Armin Petras hat es in Stuttgart bisher kaum eine Bühnenarbeit gegeben, die das Publikum vor eine so gewaltige Herausforderung stellen dürfte wie dieser Camus. Allerdings: eine Herausforderung der entschieden unguten Art, was zu einem kleineren Teil am Drama selbst, zu einem weitaus größeren Teil aber an der hippen, mit allen technischen Schikanen aufgerüsteten Inszenierung liegt. Vergafft in ihre durch und durch filmische Form, lässt sie dem ohnehin schwierigen Inhalt des französischen Autors und Philosophen keine Chance. Was Camus den Lesern und Zuschauern handlungsarm, aber wortreich sagen will, kommt im Nord unter die Räder des totalen Kinos. Total von Anfang bis Ende.

 

Am Anfang blicken die Zuschauer nicht auf eine Bühne, sondern auf eine Doppelleinwand, die über dieser schmalen, schwarzen und leeren Bühne aufgespannt ist. Dort sehen sie, festgehalten und übertragen von einer wackligen Handkamera, was außerhalb des Theaterraums gespielt wird. Und außerhalb ist zu Beginn der reale Toilettenraum des Nords: Astrid Meyerfeldt liegt als weiblicher Caligula auf den Fließen der Nasszelle, gekreuzigt wie ein Erlöser, aber noch lange nicht verstummt. Leise, intim, die Worte fast verhauchend spricht Meyerfeldt zentrale Verse aus dem Schlussmonolog ihres Despoten in die Kamera: „Welch ein Ekel, dieselbe Feigheit in der eigenen Seele zu verspüren, die ich bei den anderen verachtet habe“, sagt der lebensmüde Kaiser, der auf seinen unmittelbar bevorstehenden Abgang durch Rebellenhand wartet. Und Meyerfeldt gibt diesen Worten, über die zart vermoderte Melancholie hinaus, eine Todessehnsucht mit auf den Weg, deren Wahrhaftigkeit staunen macht: Wer freut sich schon auf das Messer in seinem Rücken? Und welcher Tyrann der Weltgeschichte wünscht sich Tyrannenmord herbei? Und, vor allem, warum?

Das Rätsel des Übermenschen

Das sind die Fragen, die das 1945 in Paris unmittelbar nach Kriegsende uraufgeführte Ideendrama stellt. Und es sind Fragen, die in der Inszenierung des polnischen Regisseurs Krzysztof Garbaczewski leider nicht beantwortet werden – zumindest nicht so, dass ein halbwegs interessiertes Publikum mit den (im Wortsinne) vielfach verspiegelten, nur bruchstückhaft und fast ausschließlich via Leinwand gegebenen Auskünften etwas anfangen könnte. Garbaczewski klärt das Rätsel des Übermenschen Caligula keineswegs auf – und ja, fast gewinnt man den Eindruck, er arbeite zusammen mit seiner Dramaturgin an einer gezielten Strategie der Desinformation, um das menschgewordene Philosophenmysterium noch weiter zu verrätseln. Neben dem Video-Overkill trägt freilich auch die skelettierte Spielfassung zum auftretenden Verständnis-Vakuum bei.

Man muss im Nord also schon höllisch aufpassen, um auch nur Restspuren der Rahmenhandlung zu entdecken: Caligulas Geliebte, seine Schwester Drusilla, ist gestorben. Der tiefe Schmerz löst bei dem bis dahin gütigen Kaiser einen grässlichen Erkenntnisschock aus: Das Leben ist sinnlos, weil es dem Tod nicht entweichen kann. Wo aber kein Sinn herrscht, bleibt dem nach Wahrheit strebenden Menschen nur eine Alternative: Entweder er beugt sich der Absurdität der Existenz – oder er überwindet sie, indem er gottgleich das Unmögliche fordert. Der Philosoph auf dem Thron entscheidet sich für die zweite Möglichkeit: „Darum brauche ich den Mond“, sagt Caligula, „oder das Glück oder die Unsterblichkeit, etwas, was unsinnig sein mag, aber nicht von dieser Welt ist.“ Und fortan kennt der Größenwahn des mondsüchtigen und rücksichtslos – siehe oben – in der Wahrheit lebenden Kaisers keine Grenzen mehr. Er vergewaltigt und mordet und greift dabei nach der absoluten Autonomie – und geht am Ende doch, so Camus im Vorwort zu seinem durchaus befremdlichen Vierakter, „willig in den Tod, weil er erkannt hat, dass kein Mensch sich allein zu retten vermag und dass die Freiheit nicht auf Kosten der anderen verwirklicht werden kann“.

Riesenaufwand ohne Mehrwert

Mit solchen Thesen, die verzweifelte Verfasstheit der Welt betreffend, muss man sich im Alltag nur bedingt rumschlagen. Aber man muss es doch unbedingt, wenn man sich als Regisseur den „Caligula“ vorknöpfen und dabei nicht einem Missverständnis aufsitzen will: dass es nämlich eh wurscht ist, an welchem Stoff sich meine Genialität beweist. Diesem Irrtum aber hängt der dreißigjährige Garbaczewski ganz offensichtlich nach, mit fatalen Folgen: Statt sich um Camus zu bemühen, bemüht er sich um eine Ästhetik, deren elektronischer Bombast nichts, aber auch gar nichts mit dem Stoff des Autors zu tun hat. Also lässt der Theatermann sein inszenierendes Jungteam von der Leine, auf dass es sich austobe: an Kameras und Mischpulten, an denen Bilder und Töne gesampelt und verfremdet, vielfach verwirrende Perspektiven schaffend auf die Videowand im Zuschauerraum geworfen werden. Doch wo immer man dann auch hinschaut und hinhört: Riesenaufwand ohne Mehrwert.

Warum das so ist, lässt sich einfach erklären. Anders als bei Castorf, Pollesch oder Mitchell, die als Vorbild gedient haben könnten, treten bei Garbaczewski die Filmbilder in keinen Dialog mit den Schauspielern, die diese Filmbilder live produzieren. Die sechs Darsteller sind ja komplett von der Bühne verbannt und agieren, von zwei Kurzauftritten abgesehen, ausnahmslos außerhalb des Blickfelds der Zuschauer. Der Theaterraum wird zum Vorführraum, die Dreharbeiten finden anderswo statt, überwiegend in einem abgeschlossenen Raum hinter den Sitzreihen. Und dass dort, in diesem von einem Krankenbett beherrschten Setting, auch Szenen entstehen, die auf der Leinwand eine Faszinationskraft entwickeln, sei nicht unterschlagen. Vom rasanten Video-Clip bis zum majestätischen Hollywoodkino, vom ambitionierten Kunstfilm bis zum psychedelischen Farbentrip haben die Elektrokünstler allerhand zu bieten – meistens aber eben ohne Sinn und Verstand, bis ins Finale.

Am Ende des „Caligula“ liegt das Stückpersonal hingemetzelt in den Weiten des Probenzentrums. Bühnenarbeiter stopfen die Toten in Leichensäcke. Parallel zu diesen Bildern werden im Theaterkino jetzt die Rollen- und Schauspielernamen eingeblendet. Katharina Knap, Sandra Gerling, Paul Schröder, Sebastian Röhrle, Johannes May: sie alle haben ihr Leben ausgehaucht. Und nur ein Mensch weilt noch unter uns: der Caligula der Astrid Meyerfeldt, die als Putzfrau mit Putzwagen von dannen zieht, nachdem sie Blut und Gedärme aufgewischt hat. Dieses Ende stellt Camus abermals auf den Kopf, was aber eh wurscht ist in einem Stückgemetzel, das wertvolle Ressourcen vergeudet – und dem Publikum viel Geduld abverlangt. Ein Jammer! Dabei dauert das Ganze nur achtzig Minuten.

Aufführungen: am 19. und 27. März sowie am 9. und 14. April.