Der Regisseur Volker Lösch zündelt wieder im Stuttgarter Schauspielhaus – mit seiner Inszenierung von Camus „Gerechten“.

Stuttgart - Theater darf alles, nur nicht langweilen. Und langweilig wird es dem Publikum bei Volker Lösch eigentlich nie. Seit Jahren erregt er mit seinen Inszenierungen die Gemüter: Was die einen an ihm schätzen, verachten die anderen. Und wofür die einen ihn lieben, ist bei den anderen verhasst. Ja, wahre Liebe und Hass sind im Spiel – man muss das so groß und drastisch ausdrücken, denn es gibt in der ganzen Republik keinen zweiten Regisseur, der mit seinen zwischen Agitation und Kunst schwankenden Arbeiten die Zuschauer so polarisiert wie der Berserker aus Stuttgart. Verlässlich macht er das Theater zum Forum für brisante politische Debatten – auch jetzt wieder, radikaler, konsequenter und womöglich auch ausgebuhter als je zuvor. Aber sind die Buhs berechtigt?

 

Auf dem Programm des Schauspielhauses stehen „Die Gerechten“ von Albert Camus. Und Lösch lässt das 1949 uraufgeführte Thesenstück in der Tat auch spielen, zwar reduziert und in Auszügen, aber immerhin: Camus. Etwa die Hälfte des Abends hält sich an die Vorlage des französischen Dramatikers und Philosophen und schildert, historisch verbürgt, wie eine Gruppe russischer Anarchisten im Jahr 1905 einen Großfürsten in die Luft jagt. Das ist das eine: Theater auf der Bühne. Und das andere? Das ist nun – ganz nach dem Geschmack des aufrührerischen Regisseurs – eine reale Volksversammlung im Parkett, wie sie realer und gewagter kaum sein könnte! Kurzerhand definiert Lösch nämlich die ahnungslosen Zuschauer zu politischen Aktivisten um, genauer: zu Teilnehmern eines Occupy-Treffens, das im Theatersaal nun auch nach allen Regeln der Occupy-Kunst stattfindet. Nichts fehlt, alles ist da: Unter Anleitung der Schauspieler wird das ganze Instrumentarium der neuen Konsensdemokratie ausgepackt – und wenn es doch an etwas mangelt, dann höchstens an der Bereitschaft des Publikums, an Ort und Stelle über Occupy-Themen zu diskutieren.

Kippt die Aufführung? Kippt sie nicht?

Viele Premierengäste wollen nämlich nur Camus sehen. Einige verlassen empört den Saal. Und die Gereiztheit unter denen, die trotzdem bleiben, nimmt zu. Die Aufführung droht zu kippen, aber – hörbares Aufatmen in der Intendanz – sie kippt nicht.

Offensichtlich sitzen im Publikum also genügend Menschen, die Lösch das Spiel mit der Revolte nicht verderben wollen. Sie sind es auch, die sich nun munter zu Wort melden und abstimmen, Einsprüche erheben und Vorschläge unterbreiten – und womöglich gefällt ihnen dieses lebendige Demokratie- und Mitmachtheater ja auch deshalb, weil sie einen inneren Zusammenhang zwischen dem Camus-Text und der Occupy-Bewegung sehen, der sie jetzt für anderthalb, zwei Stunden halb freiwillig, halb zwangsweise angehören. Die „Gerechten“ handeln davon, wie der Tyrannenmord als revolutionäres Handeln gerechtfertigt werden kann: mit universalen überzeitlichen Prinzipien, wie es der harte Stepan tut, oder mit individuellen moralischen Werten, auf die sich der weiche Iwan beruft. Und genau hier, bei Iwan und seiner mit Skrupeln behafteten Moral, sieht zumindest der Dramaturg Jörg Bochow den Link zwischen dem Drama und den „gegenwärtigen Theorien von gewaltfreiem Widerstand und herrschaftsfreien Lebensmodellen“, wie sie vor allem der Anthropologe und Anarchist David Graeber entwirft.

David Graeber? Das ist der Vordenker der US-amerikanischen Occupy-Bewegung, ihr intellektuelle Star, der in diesen Tagen auch in Deutschland entdeckt wird. Und das Sinnbild der Bewegung, die Guy-Fawkes-Maske, wird denn auch nach wenigen Minuten übergroß auf den Eisernen Vorhang des Schauspielhauses projiziert. Ziegenbärtig und dämonisch grinsend markiert der Bursche, der einst das englische Parlament in die Luft sprengen wollte, die erste von vielen noch folgenden Zäsuren des Abends. Bis jetzt hat das fünfköpfige Ensemble ja noch ein wenig Camus gespielt. Bis jetzt hat es auf einem schmalen Bühnenstreifen vor dem Vorhang, der sich während der gesamten Inszenierung nicht heben wird, gezeigt, dass es auch ohne Bühnenbild bestehen kann. Marco Albrecht, Jan Jaroszek, Matthias Kelle und, allen voran, Lisa Bitter spielen präzise den Lösch-Sound: schnell, hart, laut, lehrtheaterhaft.

Einführung in die Diskurswelt

Und zum Lehrtheater wird die Inszenierung auch. Occupy will gelernt sein, mit allen Schikanen – und mit dem Symbolbild von Guy Fawkes ertönt dann sozusagen auch der Gong zur ersten Unterrichtsstunde: Einführung in das Konsensprinzip, das sich gegen das undemokratische Mehrheitsprinzip wendet. Dann wieder eine Prise Camus. Dann die zweite Lektion: Einführung in das Motto „Wir gehören zu den 99 Prozent“ – und wie zuvor bei der Konsensdemokratie erklären die Schauspieler auch jetzt wieder, was es mit diesem weltweiten Schlachtruf der Finanzweltkritiker auf sich hat: Verglichen mit einem einzigen Prozent der Menschheit besitzen die restlichen 99 Prozent so gut wie nichts!

Damit die Zuschauer aber auch erklären können, weshalb sie zu den 99 Prozent der Habenichtse gehören, müssen weitere Lektionen folgen. Neben den speziellen Handzeichen für Diskussionen bei Occupy wird ihnen im Schnellkurs noch die Technik des „menschlichen Mikrofons“ beigebracht. Weil bei den öffentlichen Versammlungen in New York die Verwendung von Megafonen juristisch untersagt war, wurde jeder Diskussionsbeitrag eines Einzelnen von den vielen Anderen ringsum wiederholt – und auch im Schauspielhaus rufen jetzt Männer und Frauen, die sich Luft machen wollen, lautstark das Zauberwort Mikro-Check in den Saal, um ihre Sätze von anderen Männern und Frauen im Kollektiv wiederholen zu lassen.

Lasst Chöre um mich sein!

Kennt man das? Ja, das kennt man: obwohl Lösch bei Camus offiziell auf Chöre verzichtet, schmuggelt er sie doch wieder massenhaft in seine Inszenierung rein – auf listigen Umwegen, die in der Summe für mehr Chöre sorgen als je zuvor. Und dafür muss man dem Regisseur als perfektem Handwerker durchaus Respekt zollen: Indem er die Verfahrensregeln der Occupy-Bewegung eins zu eins, ohne Ironie, ohne Distanz, ohne Brechung ins Theater holt, macht er diese Regeln theatralisch fruchtbar. Die Sache mit dem Mikro-Check und den Handzeichen, mit denen Zustimmung und Ablehnung, Verwirrung oder Ruhebedürfnis signalisiert werden, mögen an das alberne Gefuchtel einer Jugendfreizeit erinnern. Aber über das Formale hinaus gelingt es Lösch doch auch jetzt wieder, ins Inhaltliche vorzudringen. Denn der Mann, der die Massen liebt, bringt die Masse im Schauspielhaus tatsächlich zum Reden: über Leiharbeit, Sozialhilfe, Altersarmut, Waffenexporte et cetera.

Planmäßig ruft der Regisseur also die Übel der Welt und speziell jene in Baden-Württemberg auf. Und planmäßig spitzt er das – freilich relative – Elend auch zu und zeigt Wege, es hinter sich zulassen. Per Video spielt er Protestaktionen von Kunst- und anderen Aktivisten ein, die sich bisweilen jenseits der Legalität bewegen. Lösch zündelt also wieder. Dazwischen lässt er Camus spielen. Dann zündelt er wieder – und als die geistesgegenwärtigen Spieler, schlagfertig wie Gottschalk in seinen besten Zeiten, irgendwann merken, dass ihnen die Occupy-Show entgleiten könnte, verzichten sie weise auf den Rest der Diskursreise. Eine Abkürzung nehmend, bringen sie das Camus-Drama zu Ende. Ein lauter Knall. Der Großfürst ist tot. Und der Großregisseur Lösch hat seinen Ritt über den Bodensee gerade noch heil überstanden.