Wie ist das Cannstatter Volksfest 2015 gelaufen? Eine Abschlussbilanz aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zwischen Trachtenverbot, Günther Oettinger und einer Magnum-Flasche Champagner.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Geruchstechnisch ist der Wasen an diesem Samstagabend eine Herausforderung: Vor Grandls Hofbräu-Zelt steigt einem der Duft von Pferdeäpfeln in die Nase. Im Eingangsbereich der Wasen-Wache duftet es dagegen nach Sauerkraut. Ob die Polizei kurz zuvor Schupfnudeln mit Kraut verhaftet hat, ist nicht bekannt. Revierleiter Thomas Engelhardt treiben in diesem Moment andere Dinge um. „Heute Abend dürfte es noch einmal rundgehen auf dem Platz“, sagt er. Der letzte Wasen-Samstag ist für alle Beteiligten ein Großkampftag, auch für die Polizei. Alle wollen noch einmal Spaß haben auf dem Volksfest, viele kleinkarierte Lederhosenträger scheinen am Samstagabend um 20 Uhr indes schon etwas zu viel Spaß gehabt zu haben im Laufe des Tages.

 

Dabei hatte Thomas Engelhardt tags zuvor eine erstaunlich positive Bilanz aus Sicht der Polizei gezogen: „Es war ein friedliches Volksfest. Die Kriminalitätsrate bewegt sich auf dem Niveau von 2010, obwohl wir deutlich gestiegene Besucherzahlen haben.“ 643 Strafanzeigen hatte die Polizei bis Freitag gezählt, das bedeutet einen Rückgang um 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Auch die Gewaltdelikte seien von 218 Fällen im Jahr 2014 auf 171 zurückgegangen, die gefährlichen Körperverletzungen von 69 auf 52 Fälle. Außerdem verzeichnete die Polizei weniger Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Nur die Zahl der Diebstähle steigt nach wie vor: besonders beliebt sind nach wie vor Handys.

Die Wasen-Bilanz vom Campingplatz

Die schlimmste Straftat auf dem Wasen 2015 ereignete sich bereits am Samstag in der Woche zuvor, als ein 26-Jähriger eine 18-jährige Bierzeltbesucherin vergewaltigte. Auch eine Woche nach diesem Verbrechen ist Jürgen Kaufmann, der Chef des Campingplatzes auf dem Wasen, noch fassungslos – schließlich ereignete sich die Tat auf seinem Platz. Wenigstens habe sich der Täter mittlerweile gestellt. Bei dem 26-Jährigen handelt es sich um einen Festzeltmitarbeiter aus dem Zelt, in dem der Wirt wenige Tage später von Angestellten um mehrere Zehntausend Euro betrogen wurde. Sieben Mitarbeiter hatten Verzehrgutscheine gestohlen und diese gegen Bargeld eingetauscht. Alle sieben wurden am Freitag von der Polizei verhaftet.

Jürgen Kaufmann schüttelt angesichts solcher Geschichten nur den Kopf. Kaufmann ist ein Wasen-Urgestein mit vier verschiedenen Funktionen auf dem Volksfest. Er ist der Herr über den Campingplatz, er verantwortet die sanitären Anlagen auf dem Wasen, ist außerdem für die Parkplätze zuständig und steigt höchstselbst in das Kostüm des Wasen-Maskottchens. Seine persönliche Wasen-Bilanz 2015? „Es wird immer stressiger, weil immer mehr getrunken wird“, so Kaufmann. Deshalb habe er zum Beispiel die Schicht der Torwache am Campingplatz bis 3 Uhr nachts verlängern müssen.

Kaufmanns skurrilstes Erlebnis auf dem Wasen 2015: „Ein Italiener konnte nach dem Feiern seinen Wohnwagen nicht mehr finden, da mussten wir bei der Suche helfen.“ Am letzten Samstag der diesjährigen Volksfestsaison ist der Campingplatz übrigens fest in Schweizer Hand. Die ersten Busse waren an diesem Tag schon um 8 Uhr angekommen, um 9 Uhr standen bereits 20 Busse auf dem Parkplatz, obwohl das Fest erst um 11 Uhr beginnt. Wenn Kaufmann vom Trubel abschalten will, besucht er das vielleicht eigenwilligste Gefährt auf seinem Campingplatz. „Einer unserer Stammgäste, ein Dachdecker aus Stuttgart, reist immer mit dem Planwagen an. Der schwäbische Cowboy lädt gerne in seine Behausung ein“, so Kaufmann lächelnd.

Die Wasen-Bilanz aus der Sicht der Wirtin

Franziska Schmid strahlt derweil bis über beide Ohren in ihrem Weinzelt Schmids Wasen-Alm. Die Juniorchefin der größten gastronomischen Neuerung auf dem Volksfest 2015 ist mit dem Wasen-Verlauf zufrieden. „Am Anfang waren wir alle sehr aufgeregt, da es bei unserem Vorgänger, dem Württemberg-Haus, ja nicht so gut lief. Besonders in der ersten Woche hat man gemerkt, dass die Leute sehr zurückhaltend uns gegenüber waren. Ab der zweiten Woche war es aber abends immer voll“, sagt Schmid. Tatsächlich ist am Samstagabend in der Alm die Hölle los. Ein in Leder gekleideter Ausdruckstänzer lässt die Hüften kreisen, während die Coverband P.n.8 die Vorzüge einer „Joana“ besingt.

Die 23-jährige Franziska Schmid schmeißt die Alm gemeinsam mit ihrem Vater Uwe, der Mutter Annette und ihrem Bruder Florian. „Zwei von uns sind immer vor Ort“, so Schmid. Vater Uwe will zum Finale seiner Wasen-Premiere noch keine Zahlen verraten, bekräftigt aber die Absicht, im nächsten Jahr mit seinem Zelt wieder an den Start gehen zu wollen.

Die Wasen-Bilanz aus der Sicht der Schausteller

Nicht mehr antreten will dagegen Nico Lustnauer als Vizepräsident des Landesverbands der Schausteller und Marktkaufleute. Lustnauer hatte in seinem Verband vehement für die Fusion mit dem größeren Schaustellerbund geworben. Viele Schausteller sind schon lange unzufrieden, dass zwei Interessenverbände miteinander konkurrieren. „Wir werden nicht umhinkommen, eines Tages zu fusionieren“, sagt Nico Lustnauer. Wegen seiner Bemühungen um eine Fusion hatte Lustnauer Ärger mit anderen Bezirksstellen bekommen, daher macht er als Funktionär jetzt Schluss.

Als Betreiber des Autoskooters Carat 2000 ist er mit dem Wasen 2015 zufrieden. „Ich bin auf dem Level von 2013, obwohl ich in diesem Jahr an einem schlechteren Platz stand.“ Dass sich viele andere Schausteller, vor allem die Betreiber kleinerer Imbisse, immer häufiger darüber beschweren, dass sie im Schatten der großen Zelte stehen, will Lustnauer nicht gelten lassen. Einige Imbissbetreiber äußern ihre Kritik mittlerweile lieber anonym, weil sie fürchten, bei der nächsten Bewerbung für den Wasen sonst schlechtere Karten zu haben.

Die Wirte der Innenstadt sehen den Wasen kritisch

Krischa Wahl äußerst seine Kritik am Volksfest dagegen auf originelle Art: Wahl betreibt mit zwei Partnern die Bar Yart am Hirschbuckel in der Innenstadt. An der Tür des Lokals klebt ein Aufkleber, auf dem Lederhose und Dirndl durchgestrichen sind. „Unsere Erfahrung mit Trachtenträgern ist schlecht: Die Volksfestbesucher kommen nach dem Wasen sturzbetrunken in die Innenstadt und machen zu 95 Prozent Ärger“, erklärt Wahl. Daher lasse man Trachtenträger erst gar nicht mehr rein.

Das Interessante an dieser Politik: die Verantwortlichen auf dem Wasen betonen immer gerne, dass der Trachten-Boom ein besseres Publikum auf das Volksfest ziehen würde, schließlich würde man in der teuren Lederhose zurückhaltender feiern. In der Stuttgarter Innenstadt sieht man das komplett anders: Ob in den Lokalen am Hans-im-Glück-Brunnen oder in den Clubs Kowalski oder Schräglage – verkleidete Volksfestbesucher finden hier keinen Einlass mehr. Die Trachten-nein-danke-Aufkleber des Yart sind übrigens heiß begehrt: „Unsere Gäste nehmen die gerne mit und verteilen sie dann in der ganzen Stadt“, sagt Wahl.

Günther Oettinger und eine Flasche Champagner

Und was sagt der Volksfestbesucher zum Wasen 2015? Günther Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, feiert am Samstagabend zum ersten Mal auf dem Wasen 2015, zuerst in Schmids Wasen-Alm und dann in Wilhelmers Schwabenwelt. „Mein Sohn war aber schon einige Male da. Er findet, dass der Wasen heute mehr Flair hat als die Wiesn“, sagt Oettinger. Der ehemalige Ministerpräsident sei schon als Kind mit seinen Großeltern auf den Wasen gekommen. Die Entwicklung des Festes sieht er positiv: „Vor 15 Jahren war das Volksfest auf einer schiefen Ebene, heute steht es besser da.“

Zu Marcus Christen, der beim Veranstalter In Stuttgart für den Wasen zuständig ist, hat Oettinger übrigens ein ganz besonderes Verhältnis: „Marcus Christens Mutter war meine wichtigste Wahlkampfhelferin im Landtagswahlkampf 1984. Marcus hat mit 14 Plakate für mich aufgehängt und später meinen Wahlkampf sogar geleitet“, verrät Oettinger. Heute zieht Christen als Wasen-Chef eine positive Bilanz für 2015: „Es war ein friedlicher Wasen, obwohl wir bei den Besuchern mit rund vier Millionen wieder zugelegt haben.“

Zum Schluss dieser Bilanz aus verschiedenen Perspektiven noch eine Anekdote aus Berlin. Ein Stuttgarter Fotograf hatte seine Heimreise am Samstag von der Hauptstadt nach Stuttgart bei der Mitfahrzentrale angemeldet. Auf einmal rief ihn ein Agenturmitarbeiter an, der eine Sechs-Liter-Magnumflasche Champagner auf den Wasen schicken lassen wollte – eisgekühlt in einer Wanne, versteht sich, für 150 Euro Liefertaschengeld. Kurz vor der Abfahrt meldete er sich wieder: Das Anliegen habe sich erledigt, er habe noch ein Flugzeug für die Flasche gefunden. Sechs Liter Champagner im Flieger nach Stuttgart: einer hatte auf dem Wasen 2015 wohl besonderen Grund zu feiern.