Wie fühlt man sich mit Blindenstock auf dem Cannstatter Wasen? Wir haben einen blinden Mann bei seinem Volksfest-Besuch begleitet.

Stuttgart - Die Wasen-Besucherin in Lederhose dreht sich erbost um, als Christian Ohrens sie von hinten anrempelt. Doch statt ihn zurechtzuweisen, hebt sie nur entschuldigend die Hände und geht aus dem Weg. Ja, Christian Ohrens bekommt eine Sonderbehandlung auf dem Cannstatter Volksfest. Er ist blind, den Festplatz überquert er mit seinem Blindenstock. Er testet den Wasen und dessen Fahrgeschäfte: Wie reagieren die Schausteller und die Besucher auf ihn?

 

Der Blindenstab hält andere auf Abstand

Dass nicht jeder mit Blinden gleich umgeht wie mit Sehenden, zeigt sich schon am Cannstatter Bahnhof. Ohrens reiste extra aus Hamburg an, um Stuttgart und den Wasen kennen zu lernen. Während die Polizisten andere Passanten bitten, nicht nach der Unterführung stehen zu bleiben, machen sie um den Mann mit dem Blindenstock einen Bogen. Auch die Security am Eingang zum Festgelände winkt ihn und seinen Begleiter Thomas Frank ohne Taschenkontrolle durch. Dabei sind beide gut bepackt mit einem Rucksack und Fototaschen.

Thomas Frank ist Chefredakteur von Parkerlebnis, einer Seite rund um das Thema Freizeitpark. Ohrens schreibt seit zwei Jahren für ihn und testet den Umgang verschiedener Freizeitparks mit Blinden. Manche besuchen sie gemeinsam, zu anderen geht Ohrens alleine. In vielen Parks, zum Beispiel dem Europapark, darf er als Blinder bestimmte Attraktionen nicht fahren. „Erfahrungsgemäß sehen die Schausteller bei Volksfesten das deutlich lockerer“, sagt er und läuft los, rein in das Gewimmel aus Blinklichtern, Lederhosenträgern und Fahrgeschäften.

Hilfsbereite Schausteller, umsichtige Besucher

Der erste Test: Flipper, ein Fahrgeschäft mit sich drehenden Sitzen auf einer drehenden Scheibe. Frank beschreibt Ohrens den Weg zum Kassenhäuschen, und los geht’s– leider am Ziel vorbei. Die Schausteller beobachten bereits den Mann mit dem Blindenstock, der um ihr Fahrgeschäft irrt, zur Hilfe kommt ihm niemand. Doch als er das Kassenhäuschen endlich findet, sind alle hilfsbereit. Ein Mitarbeiter führt ihn zum Sitz, nach der Fahrt bringt er Ohrens sogar auf den Weg zurück und beschreibt ihm die Umgebung, bevor er zurück zur Kundschaft geht. „Das war sehr freundlich“, freut sich Ohrens.

So geht es weiter, an allen Fahrgeschäften darf er ohne Probleme mitfahren, teilweise sogar gratis. Die Schausteller sind höflich und helfen dem behinderten Mann beim Ein- und Aussteigen. Mit einem Kassenwart hält er sogar einen Plausch, als der auf neue Kunden wartet. Dass größere Freizeitparks Blinde nicht mitfahren lassen, kann dieser nicht nachvollziehen. „Vielleicht liegt es an den kürzeren Personalketten auf dem Wasen im Vergleich zu komplexeren Parks“, mutmaßt er. Als Kassierer kann er selbst entscheiden, wer mitfahren darf, anstatt einen Chef fragen zu müssen.

Auch die Besucher des Wasens nehmen Rücksicht auf Ohrens. Sobald sie den Stock sehen, gehen sie ihm präventiv aus dem Weg. Eine ältere Frau bewundert seinen Mut, als er in den hohen Freifallturm einsteigt: „Dass der als Blinder sowas macht“, sagt sie. Solche Sätze bekommt Ohrens oft zu hören. Seine Antwort: Warum nicht? Natürlich könne er als Blinder nicht sehen, was er fährt. „Aber das Gefühl im Magen habe ich wie jeder andere, mir macht das einfach Spaß“, erklärt er.

Einziges Manko: der Festplatz

Ein Knarzen hier, ein Quietschen da – Geräusche, die die meisten Wasenbesucher ausblenden, sind für Ohrens essentiell. Er orientiert sich über die Geräusche und die Moderation der Fahrgeschäfte, drei erkennt er sogar daran. „Einfacher ist es für mich, wenn das Gelände wie ein Kreis aufgebaut ist oder es nur einen Weg gibt“, erzählt er. Die vielen Abzweigungen auf dem Wasen erschweren ihm die Orientierung. Nach und nach füllen sich die Wege des Festplatzes, auch das verhindert ein flüssiges Vorankommen. Mit seinem Stock stößt er öfter an Schuhe anderer, er bleibt häufiger stehen.

Sein Freund Frank führt ihn teilweise am Arm, doch Ohrens läuft auch ohne Probleme selbstständig über den Platz. Er lässt sich die Fahrgeschäfte auf seinem Weg von Frank beschreiben, einige testete er bereits auf anderen Festen. Wenn er alleine unterwegs ist, wie vergangenes Jahr auf dem Oktoberfest, fragt er Passanten um Hilfe. „Wobei die Stuttgarter zwar höflich sind, aber sehr distanziert“, beschreibt Ohrens seine ersten Eindrücke aus der Landeshauptstadt. Er hofft darauf, dass jeder die Berührungsängste vor Behinderten verliert.

Test bestanden!

Nach zweieinhalb Stunden auf dem Wasen ist Ohrens grundsätzlich zufrieden, wie mit ihm als Blinden umgegangen wird. Seine einzige negative Erfahrung war ein Essensverkäufer, der ihn ignorierte. Seinen Spaß lässt er sich davon nicht trüben, denn „ich will noch viel mehr fahren“, sagt er und grinst. Er wird noch ein paar Tage in der für ihn fremden Stadt bleiben und sie alleine erkunden.