Farben, Schnitte, Muster: Die Trachtenmode-Trends für das diesjährige Cannstatter Volksfest kann man getrost als erwachsen bezeichnen. Steht das Ende der billigen Polyester-Dirndl bevor?

Stuttgart - Trachten sind Verkleidungen. Ob billiges Polyester-Dirndl oder Highend-Luxus-Dirndl – Trachtenkleidung, die in ihrer Ambiguität, Tradition, Werte und Heimat symbolisieren will, wird oft aus dem Nicht-EU-Raum importiert, ist schlecht vernäht, aus billigem Material gefertigt und viel zu grell gefärbt.

 

Kulturelle Kostümierung

Wenn man nicht aus dem Alpenraum stammt, seit Jahren Mitglied der Trachtenkapelle Berg im Drautal ist oder den Sommer als Kellnerin auf einer Almwirtschaft im Ötztal verbringt, ist ein Dirndl nichts weniger als Kostümierung. Mode ist politisch, sie grenzt ein und aus, stilisiert den Alltag mit ihrem Zeitcharakter und ist eine offene Präsentation eines Individuums – sozial wie kulturell. So gesehen verkleidet sich jeder, der sich modisch kleidet, sich abhebt und sein Selbst im Wandel der zeitgenössischen Kultur differenziert.

Wird das Dirndl erwachsen?

Dass sich diese Kultur auch immer wieder wandelt, kann man aus den Analysen der Shoppingplattform Lyst erkennen. Dort wurde das Onlineshopping-Verhalten von über fünf Millionen Shoppern beim Suchen, Stöbern und Kaufen von Modeartikeln von 12000 Designern und Shops analysiert. Von Rocklängen, die weiter über das Knie wandern, bis zu hochgeschlossenen Blusen mit mittellangen oder langen Armen – die Trachten-Trends des Herbstes zeigen sich erwachsen, schlicht und sogar nachhaltig.

Goodbye Rosa, Hallo Braun

Selbst die Farben wirken 2019 seriöser: Dunkles Lila, das noch vor wenigen Jahren älteren Frauen vorbehalten war, löst jugendliches Rosa ab. Sogar Metallic-Dirndl sind in den Kollektionen zu finden. Die Unlust an der Uniformierung, das Entgegenhalten einer Verschmelzung mit der rosarot-karierten Masse könnte den langsamen Prozess einer Transformation ankündigen. Wie sonst kann man erklären, dass braune Dirndl wieder angesagt ist? Auch die erhöhte Nachfrage nach nachhaltiger Mode und ökologischen Stoffen zeigt, dass die Zeit des billigen Polyester-Dirndls bald vorbei sein könnte. War das Discounter-Kleid ein Zeichen der modischen Demokratisierung, hebt man sich 2019 wieder sozial ab und demonstriert seinen Klassenstand durch Leinen und umweltfreundliche Bio-Baumwolle.

Vom Volks-Look zur antifaschistischen Schürze

Die Suche nach Normalität, die auch Extravaganzen aushalten kann, ist eine modische Gratwanderung, die schnell politisch werden kann. Von der Blut-und-Boden-Ideologie bis zum einheitlichen Volks-Look sind es eben nur wenige Zentimeter Saum. So sehen es zumindest österreichische Aktivistinnen.

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Dass man ein Dirndl auch anders politisch aufladen kann und dass es alles andere als harmlos ist, demonstriert die Gruppe „Reclaim the Dirndl“. Die Aktivistinnen besticken Dirndlschürzen mit Sprüchen wie „Never let the Fascists have the Dirndl“ oder „Unsere Tradition heißt Widerstand“ und wollen so eine Gegenposition zur Vereinnahmung durch Rechte schaffen. Ob diese Botschaft im Bierdunst eines Volksfests ankommt, ist fraglich. Ein politische Auseinandersetzung wäre zumindest eine schöne neue Tradition.