Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart feiert 100. Geburtstag und nimmt die wachsende Kinderarmut in den Fokus. Der Caritasdirektor kritisiert dabei die Landesregierung: Sie tue zu wenig, um die Probleme strukturell zu bekämpfen.

Stuttgart - Die kleine Maryam war nicht geplant. „Aber jetzt ist sie da“, sagt Frau J., „und das ist ein Segen Gottes.“ Wenn die zehn Monate alte Kleine brabbelt, geht ein warmes Lächeln über das Gesicht der Mutter. Auch von ihren anderen drei Kindern – acht, sechs und vier Jahre alt – spricht die 35-Jährige und strahlt: Der Große hat im letzten Mathe-Test 42,5 von 43 Punkten erreicht. Auch im Deutschtest schaffte er fast die volle Punktzahl. Dafür „macht er viel Quatsch“, sagt Frau J. und lacht. Die große Tochter ist eine gute Schwimmerin, der kleine Sohn geht gern in den Kindergarten – und Maryam ist der Sonnenschein der libanesischen Familie, die in der Region Stuttgart lebt: „Wenn sie lacht, vergisst mein Mann zu sagen, dass er müde ist.“

 

Diese Freude können sie gut gebrauchen. Frau und Herr J. leben von Hartz IV, das Geld fehlt vorne und hinten. Der 45-Jährige hat bis vor fünf Jahren als Staplerfahrer gearbeitet. Dann ging die Firma pleite – und er erkrankte an Magenkrebs. Zwei Chemotherapien hat Herr J. hinter sich, sein Magen wurde entfernt. Nicht alle Medikamente zahlt die Kasse, beispielsweise braucht er teure Vitaminpräparate. Der 1,92 Meter große, einst kräftige Mann ist nur noch ein 70 Kilo leichter Schlaks. Ständig ist ihm kalt, vor allem die Füße sind wie Eiszapfen. Seit einer Weile arbeitet er wieder ein bisschen bei einem Kurierdienst. Zwei Stunden pro Woche fährt er behinderte Kinder zur Schule.

Auch seine Frau ist krank. Ihr hat man drei Viertel des Magens entfernen müssen, weil er von bösartigen Bakterien besiedelt war. Unterstützung suchen und finden sie bei der Caritas: Die Kinder, die sie im vergangenen Jahr aus finanziellen Gründen von der Sport- und Musikschule abmelden mussten, können dadurch vielleicht bald wieder trainieren oder ein Instrument lernen. Eine Sorge aber kann ihnen die Caritas nicht nehmen: „Meine Mutter im Libanon ist auch an Krebs erkrankt“, sagt Frau J. und beginnt zu weinen. „Ich habe sie seit neun Jahren nicht gesehen.“

Nach der Pleite kam die Krankheit

Vor hundert Jahren ist der Caritasverband der Diözese Rottenburg- Stuttgart gegründet worden, um Hilfe zu organisieren und Bedürftigen eine starke Stimme zu geben. In der kommenden Woche veranstaltet der Verband, für den 33 000 Menschen arbeiten, eine Fachwoche zu sozialen Fragen. Dabei nimmt der katholische Wohlfahrtsverband das Thema Kinderarmut in den Fokus. Mit der Initiative „Mach dich stark“ will er Kindern aus bedürftigen Familien die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen und sucht Mitstreiter.

„Wer arm ist, bleibt arm“

Jedes fünfte Kind in Baden-Württemberg ist von Armut bedroht. Das bedeutet, dass die Familie lediglich über 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügt – wie Familie J. Heute arm zu sein bedeute, außen vor zu sein in der Gesellschaft: keine Musikschule, keinen Schulausflug, keinen Kindergeburtstag besuchen oder gar feiern zu können, sagt der Caritasdirektor Oliver Merkelbach. Immer mehr Kinder im Land sind davon betroffen. 2007 war noch jedes sechste Kind von Armut bedroht.

„Das ist ein Skandal“, sagt Merkelbach. Ausgerechnet im wirtschaftlich starken Musterland Baden-Württemberg öffne sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr. Nirgendwo sonst in Deutschland hätten es Kinder aus von Armut bedrohten Familien so schwer, der Armutsfalle zu entkommen. „Wer arm ist, bleibt arm“, sagt der 55-Jährige. Das Gleiche gelte für den Bildungsstand. Im Südwesten sei der Bildungsabschluss so stark wie in keinem anderen Bundesland mit sozioökonomischen Faktoren verknüpft.

Ganztagsschulen für mehr Bildungsgerechtigkeit

Diese Probleme könne man nur strukturell lösen, sagt Merkelbach. „Wir fordern die Einführung einer qualifizierten Ganztagsschule“, ergänzt der Caritasdirektor. „Dabei wollen wir keineswegs den Eltern ihre Kinder wegnehmen.“ Die Ganztagsschule soll dazu beitragen, die Bildungschancen der von Armut bedrohten Kinder zu erhöhen, und so für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen. Außerdem verbesserten Ganztagsschulen vor allem für Alleinerziehende die Chance, Geld zu verdienen. Die Armutsquote unter Alleinerziehenden liegt bei fast 50 Prozent; nur bei Erwerbslosen ist sie höher. Schließlich müssten die Hilfen zu den Familien kommen und die Eltern einbezogen werden, fordert Merkelbach. Dafür müssten die Familienzentren im Land ausgebaut werden.

„Baden-Württemberg hat Nachholbedarf“, kritisiert Merkelbach. Die Landesregierung unternehme zu wenig, um die Probleme strukturell zu lösen. Die ehemalige Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) hat im November 2015 den ersten Armuts- und Reichtumsbericht für das Land vorgestellt und 350 000 Euro für einen Ideenwettbewerb „Strategien gegen Armut“ bereit gestellt. Die Ergebnisse dieses Wettbewerbs wurden im Frühjahr veröffentlicht. „Da sind tolle Ideen entstanden, wie man in der Fläche Armut bekämpfen kann“, sagt Merkelbach. „Leider verfolgt die neue Landesregierung diese Ideen nicht weiter.“

Stattdessen setze sie auf einzelne Projekte. So vergab der Sozialminister Manne Lucha (Grüne) im Dezember 200 000 Euro nach Mannheim für die Einrichtung einer Koordinierungsstelle gegen Kinderarmut. „Wo ist da die Strategie?“, fragt sich Merkelbach. „Es wird an vielen Stellen viel Gutes gemacht.“ Trotzdem habe sich die Lage dramatisch verschlechtert, weil strukturelle Schwächen nicht angepackt würden.

Die Caritas – Zahlen und Aufgaben

Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart beginnt seine Festwoche am Montag, 9. Juli, in der Fellbacher Schwabenlandhalle mit einem Mitarbeiterfest. Vom 10. bis zum 14. Juli befasst man sich bei einer Fachwoche in der Akademie Hohenheim mit sozialen Fragen, die Wohlfahrtsverbände in der Zukunft betreffen. Am 15. Juli feiert die Caritas ihren 100. Geburtstag zusammen mit dem Bischof Gebhard Fürst und dem Sozialminister Manne Lucha (Grüne) mit einem Festgottesdienst in der Kirche St. Antonius in Stuttgart-Hohenheim.

Der katholische Wohlfahrtsverband wurde in der Endphase des Ersten Weltkriegs am 15. Juli 1918 gegründet. Den Deutschen Caritasverband, der seinen Sitz heute in Freiburg hat, gab es damals schon 21 Jahre. Der Name geht auf das lateinische Wort caritas zurück, das Wohltätigkeit bedeutet. Im Land herrschten 1918 Hunger und Krankheiten, besonders Kinder waren betroffen: Sie litten unter Hunger, Mangelernährung und Tuberkulose. Die Bischöfe und die älteren karitativen Vereine standen einer großen unabhängigen Organisation eher kritisch gegenüber, insofern war der Start nicht frei von Konflikten. Heftig gestritten wurde auch Ende des 20. Jahrhunderts wieder: Papst Johannes Paul II. verbot die Schwangerschaftskonfliktberatung für Frauen, die über Abtreibung nachdachten. Das rief innerhalb und außerhalb der Caritas sowie der Kirche Diskussionen hervor.

Der Diözesanverband Rottenburg-Stuttgart ist einer von 27 Diözesanverbänden, die im Deutschen Caritasverband, dem größten deutschen Wohlfahrtsverband, zusammengeschlossen sind. Für den Rottenburger Diözesanverband arbeiten in neun Regionen und diversen Vereinen oder Stiftungen derzeit 33 000 Menschen in vielen Bereichen wie der Pflege oder in Krankenhäusern; sie beraten Familien, Schuldner, Schwangere, Arbeitslose oder Migranten. Die Hälfte der Mitarbeiter ist mittlerweile nicht mehr katholisch. www.mach-dich-stark.net