Was in Hollywood der rote Teppich, das ist beim Saisonauftakt in der Motorworld die Flugfeldallee. Das Schaulaufen auf vier Rädern zieht in Böblingen scharenweise Fans an.
Luis und Lee-Roy können ihr Glück kaum fassen. Eine ganze Porsche-Parade kommt auf sie zugefahren. Der weißhaarige Fahrer im vorderen 911er hält direkt bei den 16-Jährigen aus Backnang an und lässt sich in seinem Sportwagen wie ein Filmstar bei einer Hollywood-Premiere von allen Seiten fotografieren. „Voll geil, der in dem GT2 RS hat mir sogar Daumen hoch gezeigt“, jubelt einer der Jungs.
Luis und Lee-Roy sind Carspotter. So nennt man Menschen, die sich gerne mal viele Stunden mit dem Campingstuhl an den Straßenrand setzen oder sich mit dem Handy oder teils sündhaft teurer Kameraausrüstung an eine Autobahnbrücke stellen. Dort hoffen sie dann darauf, ein besonders cooles Autos vor die Linse zu bekommen. Ein wenig erinnert das an Tierkundler, die geduldig ausharren, um ein sehr seltenes und scheues Exemplar ablichten zu können.
Motorenlärm ist wie Musik in den Ohren
Sehr selten sind auch einige der Autos, die an diesem Sonntagvormittag zum Saisonauftakt in der Motorworld auf dem Böblinger Flugfeld praktisch im Sekundentakt an den Gästen vorbei fahren, die so wie Luis und Lee-Roy zu hunderten am Fahrbahnrand stehen. Scheue Exemplare sind jedoch eher nicht darunter. Im Gegenteil: Statt freundlich zu winken, grüßt man hier mit einem kräftigen Tritt aufs Gaspedal.
BROOOOOAAAAOOOR! Mit einem lauten Motorröhren fährt ein amerikanisches Muscle-Car an den beiden Jungs vorbei. „Dodge Challenger, 6,4 Scat Pack“, nickt Lee-Roy wissend. Für ihn und seinen Kumpel ist dieser Krach Musik in den Ohren. Bei ihrer Motivjagd wuseln sie wie zwei Streifenhörnchen im Zuckerrausch von einer Straßenseite zur anderen. In der Hand halten sie stets ihr Handy mit Powerbank – falls der Akku irgendwann schlapp macht. „Die sind für mich selbst und für Tik-Tok“, antwortet Luis auf die Frage, was genau er denn mit all den Bildern anstellt. Und welche Autos interessieren die Jungs besonders? „Die Schönsten, die Schnellsten, die Teuersten“, zählt Lee-Roy auf. „Einfach die Geilsten“, ergänzt Luis und flitzt davon, weil jetzt laut dröhnend eine Shelby Cobra anrollt.
Genau dieser Sound ist es auch, der Nikolaus Dill so fasziniert. „Der Sound, der Benzingeruch, die Emotionen und die Formen“, erklärt der 35-Jährige, warum für ihn auch in Zeiten der E-Mobilität die Faszination für Verbrenner ungebrochen ist. Nikolaus Dill hat seine Carspotting-Leidenschaft zum Beruf gemacht. Als Freelancer dreht er sogenannte Car-Porns. So nennen sich die aufwendig produzierten Videoclips, die Dill für Besitzer teurer Sportwagen und anderer Edelfahrzeuge produziert. Rund 3000 Euro lässt Dill sich für so ein dreiminütiges „Car-Movie“ bezahlen, bei dem er die Autos aus allen möglichen Blickwinkeln filmt, inklusive Fahraufnahmen aus einem Begleitfahrzeug.
Hauptberuflich arbeitet der Sachsenheimer als „Content Creator“ für den SocialMedia-Auftritt von Eisenmann Exhaust Systems. Der Abgasanlagenanbieter aus Hemmingen im Landkreis Ludwigsburg hat sich laut seinem Chef, dem 36-jährigen Marcel Brinkwirth, darauf spezialisiert, seinen Kunden das bestmögliche Sounderlebnis zu bescheren – zumindest im Rahmen dessen, was gesetzlich erlaubt ist. An diesem sonnigen Sonntag stört sich wohl kaum jemand an dem Motorenlärm rund um die Motorworld. Genau dafür sind die Menschen ja hier, die bis zur Wolfgang-Brumme-Allee dem Schaulaufen auf vier Rädern zuschauen, sich auf dem Parkplatz die schicken Autos anschauen oder in einer Riesenradgondel an der Scheibe kleben, um sich das Spektakel von oben anzuschauen. Rund 12 000 Menschen sind nach Schätzung von Susanne Kirschbaum, der Centermanagerin der Motorworld Region gekommen, um sich die rund 1000 Sportwagen, Oldtimer, Luxuslimousinen, Muscle-Cars und Exoten aus nächster Nähe anzuschauen- darunter auch einige so genannte „Hypercars“ wie ein La Ferrari, ein Lamborghini Countach LPI 800-4 und ein Aston Martin Valkyrie. Für diesen aufregenden Supersportwagen muss man mehr als drei Millionen Euro hinblättern.
E-Auto-Probefahrt geht auch – ganz leise, versteht sich
Neben den eigentlichen Autos geht es bei dieser Veranstaltung, die offiziell unter dem Business-Sprech-Ungetüm „MotorTreff Saisonauftakt powered by Allianz“ firmiert, auch um alles, was die Fahrkultur im Gesamten ausmacht – von individuell gefertigten Autoteilen über in Koffer verbaute Akku-Lautsprecher für Oldtimer bis hin zur passenden Kleidung für Autofans mit Attitüde – darunter ein Kapuzenpulli mit Flensburg-Schriftzug und Punkten darauf. Einige Aufmerksamkeit erntete auch die Uhrenmanufaktur Drift-Element, die einem für den entsprechenden Preis individuell gefertigte Uhren in Felgenoptik gestaltet.
Und inmitten all der lauten Verbrenner bot tatsächlich auch ein E-Auto-Anbieter Probefahrten an – ganz leise, versteht sich.