Frank Castorf inszeniert Carles Gounods Oper „Faust“ zwischen Entstehungszeit, Algerienkrieg und Hier und Jetzt als großes, gedankenreiches Spektakel an der Stuttgarter Staatsoper.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Am 9. September 1871, die Kommune ist erledigt, unterschreibt der Dichter Arthur Rimbaud als „Baron Ziegenfurz“ einen Brief, der es in sich hat: „Die Linke!...“, steht da, „was ist das eigentlich, die Linke?… Man macht sich ganz falsche Vorstellungen von diesen Leuten. Letztlich passen sie sich viel mehr an, als man von ihnen erwartet. Die Alten konvertieren und schlagen sich auf der Tribüne und vorm Tribunal an die Brust…, die Jungen wollen Karriere machen und halten sich für jede Wendung offen…“

 

Das, ungefähr, ist die Lage, als der Vorhang in der Stuttgarter Staatsoper zu Beginn von Charles Gounods „Faust“, halb Grand Opéra, halb Opéra lyrique, zum ersten Mal hochgeht, um einen Blick freizugeben auf ein Paris, das Aleksandars Denics wiederum geniales Bühnenbild auf zwei, wenn nicht drei oder noch mehr Zeitebenen ansiedelt: zu sehen ist die Hauptstadt zur Entstehungszeit des Stücks, 1859 (Richard Wagner schreibt im Moment am „Tristan“), und zu Beginn des französischen Algerienkriegs nach dem Ende der Vierten Französischen Republik, 1960. Verschachtelt ineinander sind die Metro-Station Stalingrad und das „Café Or Noir“. Schwarzes Gold. Eine Dachterrasse, später ein Flüchtlingscamp von heute. Alles hängt in der Geschichte mit allem zusammen. Und die Historie kommt immer zurück.

Das wiederum ist zu sehen auf zwei Stoffbahnen als Projektionsflächen, die Castorf (und der brillante Videoregisseur Martin Andersson) in einem fort mit Reminiszenzen und Live-Nahaufnahmen bespielen lassen: vom deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und den Massakern in Nordafrika. Daneben aus derselben Zeit vorgeblich heile, französische Werbewelt der Endfünfzigerjahre: die neuesten Automodelle wollen gewienert werden, und OMO, das Reinigungsmittel für die ganze Welt, wäscht alles weiß, weißer geht’s nicht. Eine Illusion. Was sonst? Alle Fragen sind gefragt, alle Antworten verbraucht. Was bleibt? Nichts. Oder?

Es ist angerichtet – Mitten ins Herz

Nichts, „Rien“, ist das erste, von Faust gesungene Wort in der Oper, und es fällt, nachdem der Gelehrte, mittlerweile Clochard mit wehen Füßen, ergrautem Haar und verbrauchten Gesichtszügen, in der Telefonzelle an der Ecke Stalingrad/Maxim Gorki, den Hörer aufgehängt hat: kein Anschluss mehr unter auch nur irgendeiner Nummer. Nichts.

Frank Castorf hat das Modell der Gleichzeitigkeit von Geschichte und szenischer Überblendung jahrelang auf den von ihm bespielten Schauspielbühnen ausprobiert und zur Vervollkommnung gebracht. In Bayreuth ging er auf diese Art auch den „Ring des Nibelungen“ an, wo manchmal (nur manchmal) das teils erratische Stück mit seinen überaus langen Textflächen zurückschlug. Gänzlich aufzubrechen war es in seiner monologischen, flächigen Grundstruktur nicht. Daraus hat Castorf für „Faust“ in Stuttgart seine Schlüsse gezogen. Das Werk als solches, selber Steinbruch, „nach Goethe“, wie Gounods Textdichter Jules Barbier und Michel Carré schrieben (zuerst mit Prosadialogen ausgestattet, später mit Ballett angereichert), kommt seinem assoziativen Denken vollkommen entgegen. Hier kann er, Schritt für Schritt, sprunghaft und doch konsequent im Furor, dagegenhalten. Und wie er das tut!

Mephisto und Brigitte Bardot

Das beginnt mit Mephisto (eine Wucht von Eleganzbass: Adam Palka), der, aasig lächelnd, im Metroschacht ein „Paris-Match“-Magazin mit dem Titelbild der jungen Brigitte Bardot studiert. Im Nadelstreifen, kein Hemd. Dann wechselt er in einen kleinen Verschlag im Haus mit der Nummer 13, um neben dem grünlichen Glasgefäß, in dem eine im Video immer präsente Schlange züngelt, eine Voodoo-Puppe zu präparieren: mitten ins Herz sticht Mephisto (später als Satyr mit Zylinder und Klumpfuß) seine Nadel. Es ist angerichtet, aber noch nichts vollbracht.

Faust verjüngt sich, nachdem Mephisto ihm die Blutbrüderschaft mit praktischem Biss in den Oberarm beigebracht hat. Genüsslich saugt der das warme Blut von seinen Fingern. Margarethe erscheint (Mandy Fredrich, ein Ausbund vokaler Üppigkeit, wunderbar zurückgenommen in den subtilen Passagen, ein Ereignis). Aber für Faust hat sie vorerst keine Augen.

Castorf, sinnlicher denn je

Castorf wird seine Zeit an der Volksbühne am Ende der Spielzeit standesgemäß mit einer Inszenierung von „Faust II“ beenden, und es kann gut sein, dass dann noch einmal die in Ostberlin vor zwei Jahrzehnten Castorf-Standard gewordenen deutschen Würstchen vorkommen. Davon in Stuttgart keine Spur. Undeutscher, also umgedreht: sinnlicher ist der Regisseur noch nie gewesen. Das Pariser Leben bildet er, zwischen dampfenden Schächten, Nachtlicht, Nebel und allem Metropolendreck, als ein vulkanisches ab. Walzerseelig dreht sich das Volk im Kreis, wiewohl es die Fähnchen der amerikanischen Konsum- und Bewusstseinsindustrie (allgegenwärtig, original und semi-arabisch im Branding verfremdet: Coca-Cola) zum Wedeln in der Hand hält. Das schließt, in seiner Wucht und Schärfe, Hellsichtigkeit und Boshaftigkeit an die allerbesten Szenen im Bayreuther „Rheingold“ an, hält aber noch wesentlich mehr Subversionskraft bereit.

In allen musikalischen Einleitungen der fünf Akte (und teilweise in den Zwischenspielen) hält Castorf anlassgemäß Literatur bereit: Siebel (eigentlich eine Nebenfigur, hier als lesbische Hauptrolle besetzt mit dem vielschichtig warmen Mezzo von Josy Santos) und Marthe (Iris Vermillion) rezitieren Gedichte von Rimbaud, Verlaine und eine Philippika gegen de Gaulle. Das schadet der von Gounod lediglich auf die Verführung von Margarethe durch Faust reduzierten Fabel keine Sekunde, lädt aber, im Gegenteil, die dichte, melodienselige Oper zusätzlich mit Bedeutung auf. Kolonialismus- und Kapitalismuskritik reden sich das Wort. Unmöglich, da im Detail immer mitzukommen. Unmöglich aber auch, nicht gepackt und wie mit der Nase drauf gestoßen zu werden, dass eben diese Literatur, posthum gelesen, ja auch den Blick auf den historischen Kannibalismus der großen Nation oft nur hat vernebeln helfen. Das eine sind die Verse, das andere die sozialen und politischen Verwüstungen, die sie, selbst in der Negation, schaurig schöner machten als sie waren. Und Demokratie, lässt Castorf ausrichten, ist ja eigentlich auch nur ein Wort: Es bedeutet, hält er nicht von ungefähr in seinen Begleitnotizen zur Inszenierung fest, „alles und nichts, wenn man sie nicht mit Leben und Haltung füllt“. Und: „Wir müssen wissen, dass man nicht ungestraft alles machen kann, nur weil man Demokratie sagt, aber Kapitalismus meint.“

Castorf hat genau gelesen

Folgerichtig erzählt Castorf die Verführung von Margarethe als Episode aus der wahren Waren-Welt: die mit Juwelen gefüllte, pralle Einkaufstasche vor der Tür der Dachmansarde reicht zur späteren Hingabe an Faust vollkommen aus. Mit Klunkern behängt und ordentlich abgefüllt durch den Rauch aus der gut gestopften Opiumpfeife (der wiederum pseudoromantische Visionen freisetzt), gibt Margarethe Faust, was der Mann, nicht nur unserer Zeit, sich halt nimmt, wenn sonst in seinem Leben nichts mehr vorangeht (und sich Bewusstsein, Geist und Politik eh erledigt haben): Sex. Siebel und Marthe trösten sich derweil diskutierenderweise in der Matratzengruft mit Émile Zola: „Die Bestie im Menschen“, wo die Soldaten in die ewige Nacht fahren und als letzter Gesellschafter der Menschheit auf der Flucht das Nichts gegenüber sitzt. Oh ja, Castorf hat genau gelesen, aber hier, in der Oper, ist es eben nicht nur ein ausufernder Verweis als Zitat, den er bringt, sondern, gebändigt durch die Form der Musik, die insgesamt eher kleinteilig ist, ein sofortiges Aufblitzen von Erkenntnis: Flüchtlingsströme kommen nicht aus dem Nichts. So hängt die Welt zusammen, wenn man die Realität und den philosophisch-literarischen Überbau in der Oper in eins denken kann. Castorf kann das.

Von Anfang bis Ende steht die Bühne unter einer Art Starkstrom, der niemals abebbt, und es sind nicht nur die Bilder, die sich ewig zu überbieten scheinen (weil ein Motiv wirklich stringent mit dem anderen verknüpft ist), sondern auch die Stimmen. Ausgehend vom sagenhaft präsenten Chor (Johannes Knecht) in Can-Can und Soldatenmontur (Kostümvielfalt: Adriana Braga Peretzki), bis hin zum Duell zwischen Margarethes Bruder Valentin (Gezim Myshketa) und Faust (Atalla Ayan), wo sich der Bariton und der Tenor nichts vergeben, durchdrungen von Vitalität.

Feministische Pointe am Schluss

Als die Walpurgisnacht vorüber ist - lange zuvor schon befindet sich Marc Soustrot mit dem Stuttgarter Staatsorchester, nach anfänglich gewollter Ruppigkeit, auf einem überragend flüssigen, betörend klangschönen, differenzierenden Niveau - hält der Regisseur Frank Castorf gleichwohl noch eine Pointe bereit. Interessanterweise eine, sagen wir, feministische. Orgelmächtig erhoben nämlich und frei gesprochen („Gerettet!“) nun will Margarethe hier im Tod nicht sein. Durchaus selbstbestimmt vielmehr lässt sie am Bistrotisch zwar ein paar vermutlich das Ende bringende Pillen ins Champagnerglas sinken, schaut dann aber, während sich zum letzen Mal der Vorhang senkt, sinnend in die aufsteigenden Perlen. Trinkt sie? Trinkt sie nicht? Auf den Videowänden tobt ein letztes Mal der seinsvergessene Pariser Verkehr, in dem alles weitergeht, wie, scheinbar, immer alles weitergegangen ist.

Schlendernd, sehr cool und sehr einverstanden mit der Crew, dem Haus, dem Stück, dem (jubelnden) Publikum und, nicht zuletzt, sich selbst, nimmt Frank Castorf – mit Verweis auf alle Darsteller – am Ende die Ovationen entgegen. Man wird in diesen „Faust“ unbedingt nochmal rein müssen. Denn mit einmal Sehen/Hören ist es hier nicht getan.