Erstmals fährt ein Schiff mit Atommüll auf einem Fluss in Deutschland. Die 50 Kilometer lange Neckarfahrt dauert länger als gedacht. Castorgegnern gelingt es, die Polizei auszutricksen. Ist alles doch nicht so sicher?

Stuttgart - Bei Neckarkilometer 100,14 ist es so weit. Vier Aktivisten der Umweltschutzorganisation Robin Wood baumeln unter der Neckarstraßenbrücke bei Bad Wimpfen (Kreis Heilbronn) und halten den eilends angefahrenen Kameras der großen Fernsehstationen ein drei mal acht Meter großes Banner ins Bild. „Verhindern statt verschieben“, steht darauf. Der Kapitän des Schubschiffs Ronja drosselt die Motoren, der erste schwimmende Castortransport auf einem deutschen Binnengewässer, der hoch radioaktiven Müll vom stillgelegten Atomkraftwerk in Obrigheim (Neckar-Odenwald-Kreis) ins Zwischenlager nach Neckarwestheim (Kreis Heilbronn) bringen soll, muss warten. 75 Minuten dauert es, bis zumindest ein Aktivist von der Polizei abgeseilt werden kann und die Wasserstraße so weit frei ist, dass der Verband passieren kann. Scheinbar regungslos steht ein Polizeihubschrauber am Himmel und wacht über den Konvoi.

 

In der Nacht war der 107,05 Meter lange Schubverband beladen worden, um 6.15 Uhr hatte das Schiff abgelegt. Erst gegen 19 Uhr erreichte es sein 50 Kilometer entferntes Ziel in Neckarwestheim. Dabei stellt sich durchaus die Frage: Wie kann ein Transport als sicher gelten, wenn einer Handvoll Umweltaktivisten solche Aktionen gelingen? „Das ist doch ein Witz“, findet Christina Albrecht von Robin Wood und scheint ziemlich zufrieden mit dem Coup ihrer Organisation. Insgesamt sichern mehrere Hundert Polizisten den Castortransport. Zwölf Schnellboote und zwei Schiffe der Wasserschutzpolizei begleiten die strahlende Fracht, sämtliche Brücken und Schleusen werden von der Bereitschaftspolizei weiträumig abgesperrt. Zivilbeamte kontrollieren die Schaulustigen. Sogar Hundeführer, Fahrradpolizisten und die Reiterstaffel sind im Einsatz.

Wie konnte Robin Wood ins Sperrgebiet eindringen?

Trotzdem muss Carsten Diemer vom Heilbronner Polizeipräsidium nun die peinliche, vielleicht sogar gefährliche Nachlässigkeit erklären. Wie es Robin Wood gelang, ins Sperrgebiet einzudringen, müsse noch ermittelt werden. Ja, man habe schon die Nacht im Brückengerippe verbracht, bestätigt ein Robin-Wood-Aktivist. Einem der Kletterer fällt eine Zahnbürste aus dem Rucksack. Eine weitere Protestaktion gibt es später an einer Wehranlage im Heilbronner Stadtteil Horkheim, wo sich zwei Umweltaktivisten abseilen, bevor sie von der Polizei losgemacht und in ein Boot gesetzt werden.

Franz Untersteller steht sich derweil wenige Kilometer weiter an der nächsten Schleuse bei Bad Friedrichshall-Kochendorf die Beine in den Bauch. Dort will der grüne Umweltminister an einem Messpunkt demonstrieren, dass die Strahlung, die vom Atommüll in den drei Castoren an Bord ausgeht, „nahezu bei null“ liegt. „Bei einem Flug nach Gran Canaria haben Sie eine höhere Dosis“, sagt er. Es ist nicht sein Transport, sondern der des Energieversorgers EnBW. Doch die Idee, die ausgedienten Brennelemente von Obrigheim nach Neckarwestheim zu bringen und sich damit eine hoch radioaktive Lagerstätte im Land zu ersparen, geht sehr wohl auf Untersteller zurück. Schon 2006, als Oppositionspolitiker hatte er sie empfohlen. „Das verringert das Risiko“, sagt der Minister. Es sei schizophren, dass er als Atomkraftgegner nun den Müll wegräumen dürfe. Doch der sei nun mal da. „Deshalb verstehe ich die Kritiker nicht so ganz.“

Die Gegner warnen vor Hohlräumen im Zwischenlager

Die Demonstranten wiederum fühlen sich von der Politik verschaukelt. Gerade mal 50 haben sich vor dem Heilbronner Hauptbahnhof versammelt. Sie halten Transparente mit Aufschriften wie „ Castor verschifft, Bevölkerung verladen“ und „Atomkraft? Nein danke!“-Flaggen in die Höhe. „Dieser Transport geht von einem unsicheren Nasslager in ein unsicheres Zwischenlager“, kritisiert Gottfried May-Stürmer, der Leiter der BUND-Regionalgeschäftsstelle Heilbronn-Franken. Das befindet sich in zwei Tunnelröhren in einem ehemaligen Steinbruch. Dort gibt „es mit Sicherheit Hohlräume, niemand weiß, wie groß die sind“. Die Brennelemente sollten deshalb bleiben, wo sie sind. Dann setzt sich das Protestzügle in Marsch Richtung Theresienwiese, begleitet von mindestens so vielen Polizeibeamten und einem Hubschrauber. Sie sei schon ein bisschen enttäuscht, dass sich im Schwäbischen nur ein Handvoll Leute mobilisieren ließen, sagt Helga Eichinger, die mit ihrem Mann im Wohnmobil aus dem Wendland angereist ist. „Wenn wir gegen Gorleben protestieren, legen wir die Innenstadt von Hannover lahm“, sagt die 69-Jährige.

In Neckarwestheim selbst hält sich die Aufregung in Grenzen. „Das sind immer die Auswärtigen, die da demonstrieren“, sagt die Verkäuferin im Cap-Markt. Karsten Rech, der Chef des Hotels am Marktplatz, war „schon immer kritisch gegenüber der Atomkraft“. Die Brennelemente aus Obrigheim nach Neckarwestheim zu bringen sei aber richtig: „Es wäre unverantwortlich, noch ein oberirdisches Zwischenlager zu bauen, wenn wir hier das wahrscheinlich sicherste in ganz Deutschland haben.“ Für den Widerstand der Gemeinde gegen den Transport und die Einlagerung hat der 51-Jährige kein Verständnis. Etwa drei Viertel seines Umsatzes verdanke er dem Atomkraftwerk. „Wir alle haben hier jahrelang gut gelebt, auf Teufel komm raus.“

Neckarwestheim verdankt der Atomkraft seinen Wohlstand

Alle seien damals ganz euphorisch gewesen, erinnert sich der ehemalige Gemeinderat im Nachbarort Gemmrigheim, Martin Lessow, der im GKN lange Jahre Personalleiter war. Die Kommunen hätten sich um das Kraftwerk gerissen. Und tatsächlich profitierte Neckarwestheim gewaltig. 1700 Einwohner hatte man damals. 40 Jahre später sind es 3800. Schuldenfrei ist der Flecken seit 1995, in Spitzenzeiten – 2003 etwa – nahm der Ort deutlich mehr als 15 Millionen Euro an Gewerbesteuern ein. Die Zeiten sind vorbei, für dieses Jahr kalkuliert der Bürgermeister Jochen Winkler noch mit 800 000 Euro. Die Gemeinde lebt von den Reserven, die mit 23 Millionen Euro immer noch üppig sind, obwohl der langjährige Schultes Horst Armbrust in den 90er Jahren 40 Millionen Mark verzockte wie Spielgeld. Sein Nachfolger Mario Dürr brachte seine Amtszeit damit zu, das Geld wieder zurückzubeschaffen. Winkler muss nach neuen Einnahmequellen suchen.

Markus Beckbissinger gräbt derweil nach Annabelle. Der Landwirt sitzt am Steuer des Traktors; seine Frau und seine Arbeiter stehen hinter ihm auf dem Vollernter und putzen die Kartoffeln. Im Hintergrund dampft der Kühlturm von Neckarwestheim II. Die Beckbissingers sind die nächsten Nachbarn des Kraftwerks, das noch bis 2022 am Netz bleibt. Beim letzten Castortransport über Straße und Schiene seien ihm die Demonstranten durch die Kartoffeln getrampelt. Insofern sei der Schiffstransport besser. Doch dass der radioaktive Müll überhaupt in seiner Nachbarschaft lande, gefalle ihm nicht. „Was kommt, bleibt“, prophezeit der 39-Jährige.

Die EnBW hat im Ort immer noch einen guten Namen

Genehmigt ist das Zwischenlager bis 2046. Doch ein Endlager ist nicht in Sicht. Das dauere bestimmt bis in die 2050er Jahre, mutmaßt Minister Untersteller. So gesehen hat der Obrigheimer Bürgermeister Achim Walter (FDP) das große Los gezogen. Noch vier Transporte, dann sind alle 342 Brennstäbe abtransportiert und der Rückbau von Deutschlands ältestem Atommeiler kann in die entscheidende Phase gehen. Am Ende könnte aus dem Kraftwerkgelände grüne Wiese oder aber ein ganz normales Gewerbegebiet werden, wie Walter hofft. Nebenan hat die Zukunft bereits begonnen. Ein Biomassekraftwerk hat die Stromproduktion aufgenommen: Sechs Megawatt gegenüber 355 beim Atomkraftwerk. „Aber vielleicht können wir auch mit der EnBW weiter arbeiten“, sagt Walter. Immer noch hat der Energieriese im Ort einen guten Namen.