Callas, Gould, Benedetti-Michelangeli: zu moderaten Preisen kommt das Lebenswerk der großen Interpreten auf den Markt. Die Firmen setzen immer häufiger auf Sammel-Veröffentlichungen. Besonders Pianisten liegen im Trend.

Stuttgart - Jedes Jahr im Klassik-Herbst füllen sich die Online-Schaufenster der Versandhändler und die Regale der wenigen verbliebenen CD-Fachgeschäfte mit Neuerscheinungen. Flutartig brechen ziemlich gewichtige Sammel-Boxen herein. Darunter waren diesmal viele Klavier-Enzyklopädien. Sie sind Futter fürs Weihnachtsgeschäft der verbliebenen drei großen international ausgerichteten Klassik-Multis: Universal mit den Traditionsmarken Deutsche Grammophon, Decca und Philips; Sony Classical, deren Riesenkatalog von Labels wie RCA, CBS und Columbia gespeist wird; schließlich Warner Music. Vor zwei Jahren wurde die EMI-Klassiksparte von Warner geschluckt – Sammler haben daran zu kauen, wenn jetzt etwa die „vollständigen Warner-Aufnahmen“ von Itzhak Perlman herauskommen: der große Geiger stand Jahrzehnte lang bei EMI und Angel unter Vertrag. Für etliche ist das Etikettenschwindel.

 

Der Trend zur Mega-Box ist nicht allein der Wintersaison, den traditionell stärksten Umsatzmonaten November, Dezember und Januar geschuldet. Für Manager, die sich der Musikgeschichte verpflichtet fühlen, ist es eine Möglichkeit, den Katalog, oft aus mehr als hundert Jahren, verfügbar zu halten – was allerdings nur funktioniert, wenn man den Preis senkt, sagt Stephanie Haase, die Direktorin der Klassik-Abteilung von Warner Music für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Sie ist seit 1998 in der Schallplattenbranche, anfangs bei der Deutschen Grammophon, danach bei EMI Classics in Köln und nun mit Sitz in Hamburg. Und manchmal möchte man jüngeren Generationen schlicht wieder eine der großen Musiker-Persönlichkeit schmackhaft machen.

Maria Callas strahlt noch immer

Etwa Arturo Benedetti Michelangeli, dessen Warner- (sprich EMI-) Aufnahmen als 14-CD-Box jetzt wieder erhältlich sind. Die Aufbereitung fällt bei diesem Pianisten für Kenner unaufwendig aus, ein schmales Booklet mit allerdings gutem Essay muss genügen, und für ein neues Mastering hat es auch nicht gereicht. Mit der vorbildlichen Callas-Edition von Warner, die 2014 ein großer Erfolg wurde, ist das nicht vergleichbar; da hat man mehr als ein Jahr in den Londoner Abbey Studios jeden Fitzel Originalband neu digitalisiert. Solchen finanziellen Einsatz überlegen sich die Firmen genau. „Das ist knallharte Kalkulation und wir können das nicht mit allen Künstlern machen“, sagt Haase. Die Strahlkraft einer Maria Callas ist eben ungebrochen. „Obwohl wir keinen Kulturauftrag haben, fragen wir uns immer wieder: was darf nicht in Vergessenheit geraten“, sagt Stephanie Haase, die kurz vor Abschluss der Arbeiten am nächsten Groß-Projekt ist.

Die Managerin ist gespannt, wie es ankommt. Im kommenden Jahr wagt Warner noch einen dickeren Klotz. Zum hundertsten Geburtstag des Geigers Yehudi Menuhin sollen mehr als achtzig CDs frisch aufbereitet werden, dazu etliche DVDs mit den Filmdokumentationen von Bruno Monsaingeon herauskommen. Das wird die Zehn-Pfund-Marke locker reißen.

Schallplatte als autonomes Kunstwerk

Wie Callas ist Glenn Gould eine sichere Bank. Ein Prachtwürfel des CD-Herbsts ist dem kanadischen Genie, 1982 mit fünfzig Jahren gestorben, gewidmet, 5282 Gramm, 81 CDs samt gebundenem 416-Seiten-Luxus-Buch mit vielen Fotos und Faksimiles von Dokumenten wie Aufnahmeprotokollen. Sony Classical hat da ganz auf den Gould-Kult gesetzt, auf den Star-Appeal des verschrobenen Intellektuellen, der Bachs Goldberg-Variationen ins Popbewusstsein gehoben hat – seine zwei Studioaufnahmen sind natürlich enthalten, selbst die elektronische Stereofonisierung der ersten in Mono eingespielten von 1955. Alle Originalalben sollten es eben sein, jetzt in Direct Stream Digital Masteringtechnik; deswegen fehlt das einst posthum erschienene von Gould dirigierte „Siegfried-Idyll“ von Wagner. Tatsächlich klingen die Brahms-Intermezzi jetzt im Bass fett wie vorher nicht – dafür kommt deutlich heraus, dass der Steinway in op. 117/1 dort unten im Register leicht verstimmt ist.

Damit liegt ein Lebenswerk vor: 1964 hatte der 32-jährige Gould aufgehört, öffentlich aufzutreten – wer hat sich das in diesem Alter jemals zugetraut, darauf setzend, der Namen sichere ein auskömmliches Einkommen allein als Schallplattenkünstler? Genau das wurde Gould, denn er hat die Schallplatte nie als Surrogat, sondern als autonomes Kunstwerk verstanden.

Ebenfalls eine imponierende Künstlerkarriere ist die von Martha Argerich: die Deutsche Grammophon hat der Pianistin jüngst eine limitierte Edition gewidmet. Im Alter von zwanzig Jahren gab sie bei der DGG ihr Schallplattendebüt. Auf den 48 CDs sind 54 Jahre einer Musikerin dokumentiert, die kompromisslos begann und bis heute allein das tut, was sie will. Beinahe jede von Argerichs Aufnahmen ist von höchstem Rang, selbst Kleinigkeiten, etwa Ravels Sonatine, aufgenommen 1975: im ersten Satz eine schmerzlich schimmernde Erinnerung an bessere Tage, im abschließenden Animé von passagenweise tigerhaftem Zugriff. Für knapp hundert Euro ist das beinahe ein Schnäppchen, wenn sich dieser Kaufhausramsch-Ausdruck bei der großen Argentinierin nicht verböte.

Dinorah Varsis Vermächtnis ist die Entdeckung des Jahres

Neben diesen Enzyklopädien findet sich unter den Klavierboxen auch Archäologisches. So hat Sony Classical eine Fünfzig-CD-Box herausgebracht mit unveröffentlichten Live-Mitschnitten von Vladimir Horowitz, entstanden zwischen 1966 und 1983. Die Firma macht damit einen Sündenfall wett, den man dreißig Jahre früher im Hinblick auf den vermeintlichen Wunsch des Publikums nach Makellosigkeit beging. Aus verschiedenen Live-Aufnahmen des Klaviergottes, der nicht unfehlbar war und im Konzert mal daneben tappte, hatte man nun beinahe fehlerfreie, aber ziemlich kalte Tracks zusammengeschnippelt. Jetzt ist alles live, ungeschminkt – Glenn Gould wäre entsetzt. Aber was für Farben, für ein Ausdruckswille, zum Beispiel in Liszts Mephisto-Walzer am 8. April 1979 in Chicago!

Der Oscar für die Entdeckung des Jahres gebührt dem Label Genuin, das unterstützt von den Erben, das diskografische Vermächtnis von Dinorah Varsi herausgebracht hat. Die „Legacy“-Box im Schallplattenformat enthält 35 CDs und fünf DVDs, unter anderem mit sehenswerten Meisterklassen-Filmen. Im Südwesten ist die vor zwei Jahren im Alter von 74 Jahren gestorbene Pianistin aus Uruguay gut bekannt, konzertierte regelmäßig in Stuttgart, unterrichtete in Karlsruhe und wurde jahrzehntelang von der Konzertdirektion Russ vertreten. Vom Temperament her war sie eine kleine Argerich-Schwester, zupackend und zur Poesie begabt bei Mozart, Chopin und Schumann – und doch ganz verschieden, da formbewusst, weniger intuitiv als analysierend. Eine blitzgescheite, sensible Künstlerin, begabt mit großer Kunst.