Am Donnerstag wird der Chamisso-Preis erstmals zu gleichen Teilen an zwei Autorinnen vergeben: Esther Kinsky und Uljana Wolf erkunden im Schiff der Sprache die Vielstimmigkeit der Welt. Ein Doppelporträt zwischen Calw und New York.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Zwei Frauen, die eine hier, die andere dort. Esther Kinsky sitzt in dem kleinen Schwarzwaldstädtchen Calw in einem Café mit Blick auf herausgeputztes Fachwerkgewinkel, Uljana Wolf im New Yorker Stadtteil Brooklyn mit bester Aussicht auf das Schauspiel der Gentrifizierung. Was beide zusammenbringt, wie die Ufer eines Flusses, so fern sie einander liegen mögen, ist ihr Grenzen überschreitendes Schreiben, ein Agieren an den Abbruchkanten zwischen Sprache und Welt, wo Ordnungen sich auflösen, Worte aufsässig werden und sich eine Wirklichkeit zeigt, die hinter den Dingen liegt. Für ihr Werk erhalten sie an diesem Donnerstag gemeinsam den Chamisso-Preis, ein Novum, bisher wurde jeweils ein Haupt- und ein Förderpreis vergeben.

 

Längst ist das Fremdsprechen ein zentraler Lebensnerv der deutschen Literatur, ausgezeichnet werden deshalb seit einiger Zeit nicht mehr nur Autoren, für die ein Kulturwechsel prägend war, sondern auch solche, die vom Deutschen aus die Vielstimmigkeit der Welt erkunden. Zwar reichen die familiären Wurzeln der in diesem Jahr Geehrten in eine polnische Vergangenheit hinein, doch geboren wurden sie in Deutschland, Esther Kinsky 1956 im bergischen Land, Uljana Wolf 1972 in Berlin. Bezeichnender als ein wie immer verschwimmender Migrationshintergrund ist für diese Autorinnen ihre nomadisierende Neugier, mit der sie im Schiff der Sprache in See stechen, vom einen Ufer zum anderen übersetzen, aus dem Englischen und osteuropäischen Sprachen, wie überhaupt beider Lebensraum ein Bogen von West nach Ost und umgekehrt umspannt.

Das Prekäre wird zum Phantastischen

Von Berlin nach Calw hat Esther Kinsky ein Hermann-Hesse-Stipendium verschlagen, jüngste Station eines Lebenslaufes, dessen vielfältiges Wassernetz ihr dritter und bisher letzter Roman „Am Fluss“ verzeichnet. 15 Jahre verbrachte Kinsky in London unweit des River Lea, an dessen Ufern die Stadt ausfranst in ein Zwischenreich aus wucherndem Kraut und Verfall, in dem sich die „Ausläufer des Traums von der großen Begradigung der Welt“ verlieren. Dieses landläufigen Begriffen der Schönheit entzogene Gelände kartografiert Kinskys lyrische Prosa als Erinnerungslandschaft, in der autobiografische Momente mit gestochen scharfen Aufnahmen einer sozialen Randzonenwildnis zusammenfließen. Mit der Andacht eines Naturdichters versenkt sie sich in das Farben- und Formenspiel des Marginalisierten, und verhilft ihm zu einer Würde und Schönheit, in der sich das Prekäre zum Phantastischen wandelt.

Kinsky erzählt keine Geschichte, sondern entfaltet die Abenteuer der Wahrnehmung. Wie in ihren Gedichtbänden bringt eine von allem Überflüssigen entkleidete Ökonomie des Ausdrucks die Fülle der Dinge zum Leuchten. Im Ewigkeitsumriss ihrer Sprache finden die Heimatlosen eine Bleibe, inmitten einer Welt, in der alles fließt. Vom River Lea aus bereist ihre Erinnerung andere Ströme: den Rhein, an dem sie aufwuchs, und die Semantik von Diesseits und Jenseits, Hier und Dort entdeckte, den Po, den Ganges, einen Wasserlauf in Tel Aviv, die Neretva, die das im jugoslawischen Bürgerkrieg zerbrochene Mostar teilt, „ein säuselndes Gewässer im Dienst der Vergesslichkeit“ oder die Tisza in Ungarn, wo Kinsky nach London vorübergehend lebte. Nun die Nagold in Calw.

Lieber Industriegebiete als Fachwerk-Oasen

„Diese Fachwerksachen interessieren mich nicht“, sagt Kinsky mit einem etwas ratlosen Blick auf das von City-Malls und Parkhäusern eingeklemmte historische Hermann-Hesse-Gedächtnis-Areal am Calwer Marktplatz. Aber kann man die leise Unwirtlichkeit einer aufgehübschten Vergangenheit nicht auch als eine Form des „gestörten Geländes“ begreifen, das ihr Gedichtband „Naturschutzgebiet“ erkundet? „Dazu ist es viel zu kontrolliert und künstlich.“ Am Ufer der Nagold ist sie auf die Reste eines „schönen alten Industriegebiets“ gestoßen, ein stillgelegtes Kieswerk. „gezeichnetes gelände in gestundeter seligkeit der verwahrlosung“, heißt es in einem der Gedichte. Von hier aus erschließt sich ein Terrain, das in den getilgten Spuren einer ehemaligen KZ-Außenstelle und den traurigen Flüchtlingsgruppen, die nachts durch dunkle Straßen irren, mehr verrät als die vom Konsum besonnte Schauseite.

Zur gutgemeinten Folklore des Chamisso-Preises zählt das Bild des Brückenbauers. Doch mit sanfter Entschiedenheit weist Kinsky in ihrem Übersetzungs-Essay „Fremdsprechen“ jenen Gestus zurück. „Ich bin keine Vermittlerin zwischen den Kulturen“, sagt sie. „Mich interessiert die Materialität von Sprachen, was man mit ihnen machen kann, welche Mittel sie finden, um Dinge auszudrücken, wie sie unseren Horizont erweitern.“

Aus falschen werden echte Freunde

Damit freilich ist die Brücke geschlagen von Calw nach New York, wo Uljana Wolf am Telefon davon erzählt, wie in ihren Gedichtbänden die Materialität der Sprache den Aufstand probt. Sie ist mit dem von ihr auch übersetzten Autor Christian Hawkey verheiratet, unterrichtet am New Yorker Pratt Institute Deutsch, und nährt mit ihren Gedichtbänden „Falsche Freunde“ und zuletzt „Meine schönste Lengevitch“ den Verdacht, ihre Schüler könnten einer durchaus eigentümlichen Ausprägung der deutschen „Lengevitch“ ausgesetzt sein. Denn hier wird „gebubbelt und gebabelt“, dass die Schwarte kracht. Wie Kassiber schmuggeln ihre Texte Bedeutungen über die Sprachgrenzen hinweg. Was Esther Kinsky in den Schwemmgebieten der Unordnung sucht, findet Uljana Wolf in dem unsicheren Grund, wo Ähnlichkeiten im Klang und Bau der Wörter ineinandergleiten und zu Gegensätzen werden.

Ihre Gedichte, die häufig in Prosa notiert sind, und bisweilen wie Weberschiffchen auch typografisch eine Textur aus Bewusstseinsfäden bilden, inspiriert nicht Natur, sondern der Hip-Hop auf den Straßen der amerikanischen Metropole, das magische Märchen-„Bricklebritt“ ihrer Herkunft, das versammelte Wissen eines literaturwissenschaftlichen Studiums, und das Gebabbel ihrer kleinen Tochter. „Ich hatte eine Schreibblockade, während mein Kind zu babbeln begann, die Gleichzeitigkeit beider Phänomene hat mich fasziniert, das Verstummen und der unwillkürliche Sprachfluss.“

In dieser Zeit hat sich Wolf mit dem Sprachwissenschaftler Roman Jakobson befasst, der nachgewiesen hat, dass Kinder in der Babbelphase die Laute aller Sprachen mit ihren Mundwerkzeugen bilden können: erst mit dem Erwerb der Muttersprache werde jene universale Fertigkeit verlernt. Alles Sprechen baut auf einem Vergessen auf. Wolfs Schreiben erinnert sich zurück, und führt das anarchische Spielpotenzial frühkindlicher Lautpoesie ihren Gedichten zu.

Am heftigsten schlägt das Herz am Rand

„Mappa“ ist ein Text überschrieben, der die Frage nach dem Wohnort wie auf Trittsteinen vom Bedeutungsfeld des englischen „map“, über das der Spiel- und Landkarte, bis in die Heimat des Schreibwerkzeugs, das Mäppchen, trägt. „Meine schönste Zeit im Englischen war jene der sogenannten falschen Freunde“, erzählt Wolf. So nennt man Wörter, die sich unter den Sprachen zu ähneln scheinen, aber eine unterschiedliche Bedeutung angenommen haben. „Menschen aus demselben Sprachkreis verstehen sich wunderbar über ihre Fehler, viele sagen zum Beispiel im Englischen statt ,map‘ für Landkarte ,card‘. Nicht-Muttersprachler übernehmen das, so wird das Englische am Ende wieder mehrsprachig und der globale Hegemonieanspruch der ,lingua franca‘ ausgehöhlt.“

In den partisanenhaften Sprachspielen Uljana Wolfs und in den Grenzüberschreitungen Esther Kinskys gebiert die strenge Konzentration auf die Materialität der Wörter das Politische. Beide untergraben je auf ihre Weise damit auch die nationalistischen Abschottungsversuche, mit der man nicht nur in der osteuropäischen Region, aus der ihre Vorfahren einmal aufgebrochen sind, auf die Wanderungsbewegungen unserer Tage reagiert. Sie erinnern, dass das Herz am heftigsten am Rand schlägt, nicht in der Mitte.