Heute Abend tritt Bayern München gegen den SSC Neapel an. Die Italiener mischen wieder oben mit und die Fans spielen verrückt.

Stuttgart - So schnell wie am 19. September hat sich das Blut seit Jahrzehnten nicht verflüssigt. Laut Neapels Erzbischof Crescenzio Sepe vollzog sich das alljährliche Mysterium anders als gewohnt bereits vor den Morgengebeten der Neapolitaner. Allerdings hat der Vatikan der Zeremonie, bei der sich die Ampullen getrockneten Blutes des Stadtheiligen Gennaro seit rund 700 Jahren verflüssigen, den Status eines offiziellen Wunders entzogen - und degradierte so das traditionelle Spektakel zur Folklore. Doch in Neapel bleibt Gennaro ein mirakulöser Superstar.

 

"Ein Zeichen, dass uns der Heilige Gennaro besonders gern hat. Und sicher auch ein exzellentes Omen für unseren SSC Neapel", wurde die vorschnelle Flüssigwerdung von Fachmann Sepe analysiert. Der Würdenträger integriert Meisterschaftsbitten an seinen obersten Chef in jedes Tagesgebet und erhielt zur Belohnung von den Tifosi dafür den Sprechchor: "Einen Kardinal, es gibt nur einen Kardinal!"

Selbst verordnetes Delirium

Neapel hat sich seit Monaten das Delirium selbst verordnet. In der vergangenen Saison hatte man fast per Champagnerfußball den ersten Scudetto seit 1990 gewonnen. Letztlich sprang Platz drei und die erste Champions-League-Qualifikation nach 21 Jahren heraus. Wohnviertel der Vereinsheroen mussten aufgrund spontaner Verehrungspartys der Fans nach Siegen für den Verkehr gesperrt werden. Der Einkaufsbummel einiger Spieler im Zentrum endete bisweilen damit, dass sie wegen der euphorisierten Massen im Geschäft eingesperrt wurden, und später lediglich dank Polizeieskorte entkamen. Im August pilgerten 30000 Anhänger zu einem wertlosen Testkick zwischen der ersten Elf und Ergänzungsspielern. Heute erwarten die Neapolitaner den FC Bayern München in Europas Edelklasse.

Der SSC ist kein Club, sondern Seelenspiegel der Stadt, sagt man. Vom Norden oft verächtlich degradiert, erlebte man die letzte stolze Hochkonjunktur unter Diego Maradona, der Neapel mit zwei Meisterschaften und einem Uefa-Pokal-Triumph gegen den VfB Stuttgart in unbeschreibliche Freudentaumel stürzte.

 Autorkorsos in der Stadt

"Mitten ins Gesicht des anderen Italiens!", stand trotzig auf einem Plakat im Mai 1987 beim ersten Serie-A-Gewinn. 1984 feierten 80.000 Menschen Maradonas Präsentation im Stadio San Paolo und bis in die Nacht mit Autokorsos in der Stadt. In den Folgejahren beteten die Neapolitaner für Maradonas Geniestreiche zum Heiligen Gennaro. 1991 verabschiedete sich der Argentinier per Kokainaffäre und stürzte Napoli in eine tiefe Depression. Ein unsägliches Siechen unter unfähigen Verantwortlichen begann, das nach ermüdenden Zweitligaleiden schließlich 2004 im Bankrott endete. Dann betrat der Filmproduzent Aurelio De Laurentiis die Bühne, dessen Finanzspritze den SSC Neapel vor dem Fall in das Bodenlose rettete.

Die Himmelblauen mussten den Neubeginn in der dritten Liga antreten, in der sich auch die schauerlichen Weihnachtskomödien des neuen Besitzers bewegen. Einen Ästhetikplan besaß De Laurentiis aber zumindest im Fußballgeschäft. "Ein Verein muss Gewinn abwerfen", sagte er beim Amtsantritt und bilanziert im Unterschied zur Konkurrenz AC und Inter Mailand oder Juventus Turin fünf Jahre schwarze Zahlen in Folge. Dem Patron fehlt es beileibe nicht an finanziellen Ressourcen, er ist aber kein Scheich oder Oligarch, der gedankenlos Geldbündel auf die Transferpiazza schleudert.

Mit einem stringenten Projekt ohne Größenwahn puzzelte sich Neapel anhand weitsichtiger Einkäufe Jahr für Jahr ein funktionierendes Kollektiv zusammen. In die drei Juwelen Ezequiel Lavezzi, Marek Hamsik und Edinson Cavani investierte De Laurentiis 29,5 Millionen Euro - aktuell wird ihr Wert auf das Dreifache taxiert.

 Drei Tenöre der Offensive

Die sogenannten Drei Tenöre der Offensive jagt mittlerweile beinahe jeder Spitzenverein Europas. Der jüngste signifikante Neuzugang heißt Gökhan Inler, Kapitän der Schweiz, und überragender Balleroberer im Mittelfeld. In der nahen Zukunft will der Präsident nach dem Modell des FCBarcelona das Trainingsgelände und den Nachwuchsbereich ausbauen: "Die Stars müssen wir demnächst im eigenen Haus formen, der einzige Weg, um langfristig Erfolg zu haben. Nur weil wir jetzt oben stehen, werde ich keine verrückten Summen für neue Spieler ausgeben", sagt De Laurentiis, dessen kernige Aussagen zur Freude der Stadt Italiens Calcio-Establishment nach Kräften durchrüttelt.

Seit zwei Jahren hat das Napoli-Projekt auch den adäquaten Trainer. Zunächst aber gelang Edy Reja, jetzt bei Lazio Rom, der Durchmarsch von der dritten in die erste Liga. Es folgte ein mittelmäßiges Intermezzo von Roberto Donadoni, den schließlich Walter Mazzarri ablöste. Der Toskaner verpasste der Elf eine neue Ordnung. Seither gilt der SSC Neapel mit seiner rasanten Dynamik und einem beeindruckenden Konterspiel derzeit als edelster Vertreter der Serie A. Das honorierten selbst die Anhänger von Manchester City nach dem 1:1 mit Applaus, und die englische Presse wunderte sich. "Was für ein aufregender Offensivfußball! Napoli scheint gar keine italienische Mannschaft zu sein", schrieb der "Independent".