Im Finale der Champions League stehen sich erstmals zwei Fußballvereine aus der gleichen Stadt gegenüber: Atlético Madrid trifft auf Real Madrid. Es ist ein Duell der Gegensätze. Das vergleichsweise arme Atlético trifft auf das verschwenderische Real.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Carlos Alonso war auch schon mal im Bernabéu-Stadion. Ein bisschen kühl fand er es dort. „Und außerdem pfeifen sie ihre eigene Mannschaft aus!“, erzählt er etwas fassungslos. „Sie führen vielleicht 3:0, und trotzdem pfeifen sie. Ich pfeife nie meine Mannschaft aus, nie! Niemals kritisiere ich meine Mannschaft.“ Er schüttelt den Kopf und sagt nochmal mit Nachdruck: „Nie. Nie. Nie.“

 

Carlos Alonso ist Anhänger von Atlético de Madrid. „Anhänger“ ist allerdings nur eine ungefähre Beschreibung der Beziehung, die Alonso zu seinem Club unterhält. „Soy del Atleti“, sagt er. Ich bin vom Atleti, heißt das. Als gehe es um seine Familienverhältnisse. Jeder spanische Fußballfan erklärt seine Anhängerschaft auf diese Weise, aber im Falle der Atlético-Fans trifft der Ausdruck die Gefühlslage ganz besonders: Sie gehören ihrem Verein mit Haut und Haar an. Ihn in der Öffentlichkeit zu kritisieren oder auszupfeifen, ist so schicklich, wie die eigene Mutter vor fremden Leuten schlecht zu machen.

Die anderen, die, die im Bernabéu-Stadion auch schon mal ihre eigene Mannschaft niedermachen, weil sie trotz 3:0-Führung keinen attraktiven Fußball bietet, sind die Fans von Real Madrid. „Soy del Madrid“, sagt Francisco Sánchez, ein Nachbar von Carlos Alonso. Dass Real Madrid von allen nur „el Madrid“ genannt wird, sagt schon viel über die Machtverhältnisse im Madrider Fußball aus. Real ist das Gewinnen gewöhnt. Real ist Madrid.

Erstmals kommt es im Finale zu einem Derby

Vielleicht liegt es an den vielen Erfolgen, dass die Stimmung im Bernabéu-Stadion bei gewöhnlichen Ligaspielen auch „etwas ruhiger ist“, sagt Sánchez. „Es ist kein so heißes Stadion wie das von Atlético.“ Erst in der Champions League komme so richtig Atmosphäre auf. „Das ist der Wettbewerb, den die Fans am meisten lieben. Da kommen Leute aus ganz Spanien und aus dem Ausland. In der Champions League verzehnfacht sich die Stimmung.“

Um die Stimmung während des Champions-League-Finales an diesem Samstag (20.45 Uhr/ZDF) muss man sich also keine Sorgen machen. Während unten die Mannschaften um den Pokal kämpfen, werden die beiden Madrider Fanblocks auf den Rängen des Estádio da Luz in Lissabon ihr Letztes geben, um die Ihren zum Sieg zu treiben. Es ist das erste Mal in der Geschichte des wichtigsten europäischen Clubwettbewerbs, dass zwei Vereine aus einer Stadt im Finale aufeinandertreffen.

Madrid wird in der Nacht zum Sonntag auf alle Fälle ein Freudenfest erleben. Offen ist nur noch, auf welcher Seite der unsichtbaren Linie, die die Madridistas und Atlético-Fans voneinander trennt, es lange Gesichter geben wird.   Bei allem Fieber: die Anhänger von Atlético können dem Spiel mit etwas größerer Gelassenheit entgegen sehen. Ihr Verein hat gerade die spanische Meisterschaft gewonnen, zum ersten Mal seit 18 Jahren, und damit das ewige Duopol von Real Madrid und dem FC Barcelona aufgebrochen. Dass der Club jetzt auch noch um die bedeutendste europäische Trophäe kämpft, ist für seine Fans eine kaum zu fassende Genugtuung. „Natürlich wäre es hart, wenn el Madrid gewinnt“, sagt Carlos Alonso. „Aber dass wir das Endspiel erreicht haben, das kann uns niemand mehr nehmen.“

In Spanien nennen sie Atlético „el Pupas“ – das Wehwehchen

Aus Alonso spricht der Stolz dessen, der sich einem Underdog verbunden fühlt. „Man hat immer gesagt, el Atleti sei etwas Besonderes, weil wir Leidende sind. Uns liegen immer Steine im Weg.“ Für die Leiden des Vereins fand sein damaliger Präsident Vicente Calderón, nach dem das Atlético-Stadion benannt ist, vor 40 Jahren einen Ausdruck: Der Club sei „el Pupas“ – das Aua, das Wehwehchen des spanischen Fußballs. „Wir haben immer Probleme, immer geht etwas schief. Gerade deshalb sind wir so hartnäckig“, sagt Alonso. „Selbst als wir abgestiegen sind, blieb das Stadion weiter voll. Ja, wir sind el Pupas, aber hier sind wir, hier sind wir!“  

Alonso erinnert sich noch genau an den Moment, als Atléticos Fama, als Atléticos Ruf, als Pechvogel geboren wurde. Es war am 15. Mai 1974, Alonso war damals fünf Jahre alt und saß mit seinem Vater vor dem Fernseher, um das Endspiel im Europapokal der Landesmeister zwischen Bayern München und Atlético de Madrid zu sehen. Atlético führte in der Verlängerung 1:0, bis Bayerns Vorstopper Georg Schwarzenbeck in der 120. Minute mit einem Fernschuss den Ausgleich erzielte. „Mein Vater war so wütend, so wütend!“, sagt Alonso. Das Wiederholungsspiel zwei Tage später gewann Bayern 4:0. Atlético musste 40 Jahre warten, um wieder in ein Cupfinale einzuziehen. „Wir hätten gern wieder gegen Bayern gespielt“, sagt Alonso: „Wir wollten uns rächen.“

Der 45-jährige Alonso wundert sich selbst, mit welcher Leidenschaft er vom Fußball spricht. Er ist studierter Betriebswirt, verheiratet, Vater dreier Kinder, vor sieben Jahren hat er einen kleinen Verlag gegründet. „Ich bin – wie soll ich das sagen – ich bin sehr preußisch“, sagt er über sich selbst. „Alles muss gut organisiert sein. Ich bin nicht der typische Spanier. Ich bin sehr rational. Aber el Atleti ist mein irrationaler Teil. Neulich hätten wir vorzeitig die Liga gegen Málaga gewinnen können. Und wir erreichten zuhause nur ein Unentschieden. Das Stadion war voll. Ich sah Leute weinen – und ich war selbst nah dran zu weinen. Das muss man sich mal vorstellen.“ Er lächelt. Er mag diesen irrationalen Zug an sich selbst.   Seine Liebe zu Atlético de Madrid hat ihm sein Vater mitgegeben. „Das ist eines der wenigen Dinge, die er mir mitgegeben hat“, sagt Alonso mit einem Lachen.

Kämpferischer Verlierer gegen erfolgsverwöhnten Meister

Ob in Madrid einer Atlético- oder Real-Fan ist, hängt nicht von seiner sozialen oder lokalen Herkunft ab, sondern von den Zufällen der Familie, in die er hineingeboren wird. „Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, ist immer zu den Spielen von Real Madrid gegangen, zu Zeiten von Juanito und Santillana, Uli Stielike und Paul Breitner“, erzählt Alonsos Nachbar, der 44-jährige Arbeitsrichter Francisco Sánchez. „So bin ich zum Real-Madrid-Fan geworden. Aus Tradition.“   Doch es sind zwei völlig unterschiedliche Traditionen, denen sich ein Atlético- oder ein Real-Fan anschließt.

Auf der einen Seite die Tradition des kämpferischen Verlierers, der alle 40 Jahre mal ein Cupfinale erlebt, auf der anderen Seite die des erfolgsverwöhnten Meisters, der in diesem Jahr seinen zehnten Europapokalsieg anstrebt.

Auf der einen Seite ein Team, das seine besten Spieler immer wieder verkaufen muss, um finanziell über die Runden zu kommen, auf der anderen Seite eine Mannschaft aus den teuersten Weltstars, deren Namen selbst Fußballmuffeln geläufig sind.

Ein Anhänger von Real Madrid kann es sich erlauben, dem Lokalrivalen auch mal den einen oder anderen Sieg zu gönnen. Sogar eine Niederlage gegen Alético am Samstag in Lissabon? „Schön wäre das nicht“, sagt Francisco Sánchez. „Aber es wäre doch immerhin die andere Madrider Mannschaft, die sich den Pokal holt. So sehe ich das.“  So viel Großzügigkeit erlaubt sich Carlos Alonso nicht. „Wir verstehen uns nicht gut, die Real- und die Atlético-Fans“, sagt er. „Wenn das Finale gegen München ginge, würden wir   vor dem Spiel mit den Bayern zusammen Bier trinken. Aber gegen Real Madrid kann es Spannungen geben. Es gibt Idioten auf beiden Seiten.“

Weder Alonso noch Sánchez gehören zu denen, die sich wegen Fußball mit jemandem prügeln würden. Aber sich gegenseitig zu necken, das gehört zum Spaß dazu. „Stell dir vor, wir gewinnen“, sagt Alonso. „Dann würden wir den Madridistas noch in 40 Jahren sagen: Erinnere dich an Lissabon!“