Ein Stoff wie gemacht für ein TV-Drama: Der ARD-Sechsteiler über die Berliner „Charité“ rührt Medizingeschichte, Sittenbild des Kaiserreichs und Liebesdrama munter zusammen.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - „Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Hängen Sie Ihr Herz nicht zu allzu sehr an die Würmer“, sagt die Krankenschwester zur neuen „Hilfswärterin“ Ida, als sie ihr die Kinderstation zeigt, „die meisten kommen hier nicht mehr lebend raus“. Kurze Zeit später muss Ida den kleinen Jungen, den die Diphterie zu ersticken droht, ein dilettantischer Luftröhrenschnitt des Medizinstudenten Tischendorf aber nicht retten kann, in den Leichenkeller der Klinik schieben.

 

In der Berliner Charité wird im Jahr 1888 mehr gestorben als geheilt. Das Krankenhaus mit Weltrenommee ist im „Drei-Kaiser-Jahr“ ein Ort, wo die Medizin gegen Tuberkulose, Diphterie, Typhus und Cholera noch die Waffen streckt, wo Krankenpflege vor allem „Gottesdienst“ bedeutet, wie die rückständige Oberschwester Martha (Ramona Kunze-Libnow) ihren Helferinnen predigt.

Ein Ort des Siechtums, wo mangels Elektrizität bei Gaslicht oder Kerzenschein operiert wird, sich zwanzig Patienten ein Plumpsklo teilen und, wie im Rest von Berlin, grässliche hygienische Zustände herrschen. Zugleich aber wird an der Charité Medizingeschichte geschrieben. Denn hier kreuzen sich zu dieser Zeit die Wege von vier bahnbrechenden Forschern, darunter drei spätere Nobelpreisträger: Der Pathologe und sozialpolitische Visionär Rudolf Virchow, der Tuberkuloseerreger-Entdecker und Bakteriologe Robert Koch, der Immunologe Emil Behring und der Serologe und Diphterie-Besieger Paul Ehrlich.

Ein Stoff wie gemacht für ein TV-Drama. Die Historiendrama-Fabrik Ufa Fiction und die ARD Degeto basteln daraus sechs 50-minütige Folgen, die erste historische Krankenhausserie im deutschen TV überhaupt, wie die ARD stolz verkündet. In den USA war man mit „The Knick“ von Steven Soderbergh oder „Masters of Sex“ freilich mal wieder schneller – und besser.

Atmosphärische Historien-Details

Medizingeschichte, Sittenbild des Kaiserreichs, großes Drama mit Leidenschaften und privaten Tragödien – die Autorinnen Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann rühren alles munter zusammen; der Regisseur Sönke Wortmann setzt das Gemisch mit Sinn für atmosphärische Historien-Details in Szene - gedreht wurde in Prag.

Doch wie die Fülle des Stoffs dramaturgisch zusammenhalten? Als Bindemittel fungiert die Figur der Ida Lenze, ein verwaistes Mädchen aus besserem Haus, die sich von einer akuten Blinddarmentzündung gequält, in die Charité schleppt. Anstatt von der Oberin und ihren Häubchen-Mädels mit „kalten Leibwickeln und Gebeten“ ins Jenseits begleitet zu werden, greift Emil Behring mit einer Not-OP im Hörsaal lebensrettend ein. Für Ida ist er kein Unbekannter: Der Mediziner hatte einst um die Arzttochter geworben, sie dann aber mit dem Tod ihres Vaters fallen gelassen.

Trotz dieser Vorgeschichte ist Ida von dem Militärarzt fasziniert. Sie muss ihre Behandlungskosten als „Hilfswärterin“ abarbeiten, was ihre Leidenschaft für die Medizin und ihren Wunsch, Ärztin zu werden, befeuert – für Frauen im Wilhelminischen Deutschland indes ein Ding der Unmöglichkeit.

Die Frauenfiguren in „Charité“ sind frei erfunden, die emanzipatorischen Tendenzen, die in Ida aufscheinen, hingegen nicht. Und auch die auftretenden Männer und ihre Dramen sind historisch verbürgt. Die Konkurrenz unter den Forschern, ihre Rangeleien um Ruhm und ihre Katastrophen treiben die Handlung vorwärts. So ist „Bazillenvater Koch“, damals eine Art Wissenschafts-Star, eine Figur, die hoch aufsteigt und tief fällt; seine Skandal-Liaison mit der blutjungen Varieté-Künstlerin Hedwig Freiberg (Emilia Schüle) zerstört seine Ehe; sein Tuberkulin-Heilmittel, für das er sich feiern lässt, erweist sich als Flop.

Ein Haufen alter, bärtiger und ziemlich steifer Männer

Auch bei ihrem Gesellschaftsporträt lassen die Autorinnen kaum eine Facette aus: Antisemitismus, aufkommender Nationalismus, Deutschtümelei ebenso wie das Keimen von sozialistischen Bewegungen, die untergeordnete Stellung der Frau: Das Drehbuch macht so viele Baustellen auf, dass die einzelnen Bauten nur mühsam vorankommen. Die Figuren erscheinen als reine Funktionsträger, die das jeweilige Thema illustrieren, zuweilen wirken sie wie ein Präparat, das auf einem Glasträger unterm Mikroskop liegt.

So etwa der junge Student Georg Tischendorf (Maximilian Meyer-Bretschneider), der sich in Ida verliebt, von einem Leben als Fotografenkünstler träumt, in eine schlagende Burschenschaft eintritt, nur um den Herrn Papa bei Laune zu halten, denn Arzt werden wie dieser, dafür taugt er einfach nicht.

Alicia von Rittberg als Ida bekommt zu wenig Spielraum, um ein starkes emotionales Zentrum zu sein, wiewohl sie schauspielerisch ihre Sache tadellos macht. Aber es fehlt an Möglichkeiten, um ihre Figur wachsen und atmen zu lassen – Sogwirkung entfaltet „Charité“ nicht.

Stattdessen führt die Serie vor allem einen Haufen alter, bärtiger und ziemlich steifer Männer vor, die auch Schauspiel-Größen wie Justus von Dohnányi als Robert Koch, Ernst Stötzner als Rudolf Virchow und Christoph Bach als Paul Ehrlich nicht überzeugend zum Leben erwecken. Mit Ausnahme von Matthias Koeberlin als Emil Behring, der mit Opium gegen seine manisch-depressive Erkrankung kämpft. Koeberlin kann die Launenhaftigkeit, die herrischen Anwandlungen, die Zerrissenheit des historischen Vorbilds gut vermitteln. Umso drastischer fallen angesichts solcher schauspielerischer Exzellenz dann wiederum schwache Leistungen bei manchen Nebenfiguren ins Auge, etwa bei der Nichte der Wärterin Stine, die dringend jemand braucht, der ihr ein „Engelchen macht“.

Die Idee zum TV-Projekt „Charité“ ist schon neun Jahre alt; ursprünglich war ein Dokudrama angedacht zur Feier von 300 Jahren Charité im Jahr 2010. Schade, dass die Spielfilmserie, die daraus geworden ist, zu sehr der ordnungsgemäßen Geschichtsschreibung verpflichtet ist anstatt den erzählerischen Mikrokosmos von dem die Autorinnen im Presseheft schwärmen, filmisch mitreißend auszubreiten. Darüber hilft auch Wortmanns Einfall, Alltagsszenen in Slow-Motion zu unangenehm dick aufgetragenem Klaviergeklimper zu verdichten, nicht hinweg.