Den tiefsten Punkt ihres Lebens hatten sie erreicht – und wissen doch, dass man danach zu ungeahnte Höhen aufsteigen kann . Drei „Survivors“, Überlebende nach schwerer Krankheit, machen im Renitenz-Theater Mut, niemals aufzugeben.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Auf dem Ablaufplan für die Veranstaltung „Survivors on Stage“ (deutsch: Überlebende auf der Bühne) stehen exakte Uhrzeiten und Anweisungen. Unter anderem ist darauf zu lesen: „Kirsten Bruhn betritt die Bühne.“ Seit 1991 ist Kirsten Bruhn nach einem Motorradunfall als Sozia im Urlaub in Griechenland Rollstuhlfahrerin. Ob sich die Goldmedaillengewinnerin der Paralympics, eine der erfolgreichsten Athletinnen des deutschen Behindertensports, über eine wenig sensible Sprache ärgert? „Aber nein“, wehrt die 49-Jährige ab.

 

Viel schlimmer, sagt sie, sei es, wenn man wegen ihr „eine Welle“ macht, wie auf dem Flug zum Benefizabend zugunsten der German Cancer Survivors, einer Initiative der Deutschen Krebshilfs, nach Stuttgart geschehen. Durchs gesamte Terminal sei nach ihr gerufen worden, man wolle ihr mit einer Abkürzung beim Einchecken helfen, erzählt die Bambi-Preisträgern. Viel wohler fühle sie sich, wenn man ihr keine Sonderrolle verordne, wenn sie „ganz normal“ alles mitmachen könne, also auch in einer Schlange warten müsse, wenn es die anderen tun.

Anderthalb Jahre nach der Diagnose auf dem Mount Everest

Kirsten Bruhn hat ihr Leben zurückgeholt – so wie die Stuttgarter Bergsteigerin und Bildhauerin Heidi Sand und der in Berlin lebende, in Fellbach aufgewachsene Moderator Stephan Pregizer. Alle drei sprechen im ausverkauften Renitenz-Theater sehr offen über ihre niederschmetternde Diagnosen – und machen auf berührende Weise, mal traurig, mal lustig klar: Ohne den unglücklichsten Tag ihres Lebens hätten es die glücklichsten Tagen ihres Lebens wahrscheinlich niemals gegeben.

Heidi Sand bestieg anderthalb Jahre nach der Chemotherapie wegen eines Darmkrebses im fortgeschrittenen Stadium den Mount Everest, den höchsten Berg der Erde. Kirsten Bruhn holte mit ihrer Querschnittslähmung im Schwimmen dreimal Gold bei den Paralympics und wurde sechsmalige Weltmeisterin. Stephan Pregizer sortiert nach einem Herzinfarkt sein Leben neu, hat die „Überholspur“ verlassen, lebt bewusster und glücklicher, seit er „das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden kann“, wie er sagt.

Alle drei sind nicht an ihrem Schicksal zerbrochen, sondern haben ungeahnte Kräfte mobilisiert und diese in Stärke verwandelt. Als Mutmacherinnen und Mutmacher sind sie unterwegs, um Vorbild von Menschen zu sein, denen eine schwere Krankheit den Boden unter den Füßen wegzieht. Mit dem Erlös des Benefizabends, bei dem Musicalstar Sabrina Weckerlin begeistert, will die Initiative German Cancer Survivors ihre digitale Medienarbeit finanziell unterstützen. Warum dies so wichtig ist, erklärt Heidi Sand: „Mir hat der familiäre Zusammenhalt nach meiner Erkrankung sehr geholfen. Viele haben niemanden, der sie auffängt. Wir wollen für diese Menschen da sein.“

„Ich bin ins Leben zurückgeschwommen“

In ihrem Buch „Mein Leben und wie ich es zurückgewann“ schreibt Kirsten Bruhn: „Das Schwimmen half mir, gegen mein Unglück, gegen die Schmerzen anzukämpfen, und bescherte mir einzelne, später immer mehr Glücksmomente. Ich schwamm, um zu überleben. Ich bin ins Leben zurückgeschwommen.“ Frisch verliebt war sie, als sie 1991 mit 21 Jahren Urlaub auf Kos machte. Der Freund hatte sich ein Motorrad ausgeliehen, um die Insel zu erkunden. „Mein Bauchgefühl war dagegen, dass ich mitfahre“, erinnert sie sich. Aus Liebe tat sie es. In den Serpentinen kam der junge Mann von der Fahrbahn ab. Zurück in Deutschland sagte ein Arzt in der Kieler Uni-Klinik zu ihr: „Frau Bruhn, das mit dem Gehen können sie vergessen!“ Sie habe so viel geheult, dass es ihr manchmal vorgekommen sei, als habe sie gar keine Tränen mehr. Heute ist sie viel unterwegs, um in Vorträgen Schwache stark zu machen, um Lebensfreude weiterzugeben, zu der sie zurückgefunden hat.

Stephan Pregizer spricht über seine Nahtoderfahrung. Eine verschleppte Erkältung hatte seinen Herzmuskel geschwächt und für einen Infarkt gesorgt. Er war schon „drüber“, wie er sagt.

Ganz wichtig ist der Aufbruch zu neuen Zielen

Dreieinhalb Stunden kämpften die Ärzte um sein Leben. Sie schafften es, was kaum noch möglich schien, ihn „zurückzuholen“. Pregizer hat „dort drüben“, ein „wohliges Gefühl“ gespürt, sich gedacht, sein Leben sei nicht schlecht gewesen, aber mit 54 Jahren sei’s zu früh, es zu beenden. Nach Wiederbelebung, Rettung und langem Reha-Aufenthalt durfte er endlich nach Hause. Daheim traf er eine Nachbarin, die ihm sagte, ein Kollege von ihr habe genau dieselbe Erkrankung gehabt und sei zur Arbeit zurückgekehrt. „Nach vier Wochen war er tot“, berichtete sie. Wumms, das saß! An unsensiblen Menschen mangelt es nicht. Doch es gibt auch viele, die empathisch sind, die mitfühlen, die mit Herz Anteil nehmen.

Eine wichtige Botschaft dieses ganz besonderen Abends lautet: Wer nach einer schlimmen Diagnose den ersten Schock überwunden hat, sollte aufbrechen zu neuen Zielen. Heidi Sand bringt es auf den Punkt: „Man muss immer in Bewegung bleiben!“