Der Chef der Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, wirft der Politik jahrzehntelanges Sparen im öffentlichen Dienst und einen Mangel an Führungswillen vor. Deshalb hätten die Bürger das Vertrauen in den Staat verloren, schreibt er in seinem Buch „Deutschland in Gefahr“.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Rainer Wendt, seit neun Jahren Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), ist ein Phänomen. Obwohl er eine relativ kleine Organisation mit 94 000 Mitgliedern vertritt, ist er medial präsent wie kaum ein anderer Gewerkschaftschef – nicht nur, weil Sicherheit das zentrale Thema dieser Tage ist, sondern auch, weil er stets ansprechbar ist. Zudem liefert er unverblümte Ansichten, die in seinem Beamtenbund und erst recht im konkurrierenden Gewerkschaftsbund (DGB) nicht jeder gut findet. Denn mitunter kommt Beifall von der falschen Seite, von rechts – doch der Populismus-Vorwurf stört ihn nicht. Er polarisiert weiter.

 

Bloß keine bewaffnete Gesellschaft

In einem neuen Buch „Deutschland in Gefahr“ stellt Wendt viele Thesen auf, die für sich genommen nicht neu sind. Doch trägt er sie in einer noch nicht da gewesenen Massivität vor. Dabei hält er sich nicht lange mit Differenzierung auf. Die Politiker hätten den öffentlichen Dienst über Jahrzehnte so sehr vernachlässigt, dass das staatliche Gewaltmonopol praktisch ausgehebelt sei. Der Vertrag, wonach der Staat die Bevölkerung schützt, die ihrerseits auf Gewalt verzichtet, sei „teilweise längst aufgekündigt“. Als Belege nennt Wendt den Zuwachs von Einbruchsdelikten in Großstädten wie Hamburg, Bremen und Berlin, ausgiebig verübt von kriminellen Banden.

Derweil sähen die Menschen in ländlichen Regionen häufig monatelang keinen Streifenwagen, weil die Polizeistation geschlossen worden sei. Zuhälter verteidigten ihre Reviere, indem sie Taschendiebe verprügelten, und vielerorts „sprießen Bürgerwehren aus dem Boden“. Die Zahl der Anmeldungen für den kleinen Waffenschein schnelle hoch, und das Sicherheitsgewerbe boome. Eine bewaffnete Gesellschaft – siehe USA – sei das Letzte, was die freiheitliche Demokratie brauche. Wendt: „Der Rechtsstaat mag in den Köpfen mancher Politiker noch funktionieren, in der Praxis wird er sich neue Regeln suchen, denn das Vertrauen ist im freien Fall.“

Rigorosere Abschiebung gefordert

Ein starker Staat könne auf die großen Herausforderungen reagieren, doch habe die Politik einen schlanken Staat angestrebt und einen schwindsüchtigen geerntet. Die sich lange abzeichnenden Flüchtlingsbewegungen hätten „die Schwächen staatlicher Infrastruktur überdeutlich gemacht“. Über die Einwanderung habe der Staat zeitweise die Kontrolle verloren, und bis heute habe er sie in manchen Teilen nicht wiedererlangt – bei Registrierung, Versorgung, Integration und Kriminalitätsbekämpfung. Zuwanderer mit Ausreiseverpflichtung könnten sich gar „relativ beruhigt zurücklehnen, denn was wir eine Verschärfung der Abschiebepraxis nennen, findet meist nur auf dem Papier der Gesetzgebung statt“, so Wendt. „Spätestens, wenn sie straffällig werden, muss das Verfahren ihrer Abschiebung beginnen“, fordert er. Dazu brauche es den handelnden Staat.

Mehr als 62 000 Angriffe gegen Polizisten

Stattdessen wachse die Aggressivität gegenüber seinen Vertretern, etwa bei der Arbeitsagentur oder im Sozialamt. Der Respekt von „Leistungsempfängern“ bewege sich auf dem „Nullniveau“. „Besonders gefährlich leben Streifenpolizisten“, schreibt er. „Dort werden mehr als 80 Prozent aller Gewaltdelikte gegen die Polizei begangen.“ Urplötzlich stünden sie aufmüpfigen „Horden“ gegenüber, selbst bei Verkehrskontrollen. Gut 62 000 Angriffe auf Polizisten seien 2015 bundesweit registriert worden. Die ganze Wucht bekämen die Hundertschaften bei Fußballeinsätzen zu spüren. Doch „der Staat wehrt sich nicht“. Die Politik sei nicht mal in der Lage, von der Fußball-Liga DFL eine Gebühr für die stete Polizeipräsenz zu kassieren. „Der Kuschelfaktor macht das schwer“, klagt Wendt gegenüber der StZ. „Die politischen Entscheidungsträger fühlen sich auf den Ehrentribünen zu wohl.“