Die Chemiegewerkschaft kritisiert einen übertriebenen Fokus von Politik und Gewerkschaftsbund auf die prekären Jobs. Nun soll wieder die Mitte der Arbeitnehmer stärker in den Fokus gerückt werden. Munition liefert eine aufwendige Studie.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Jahrelang haben die Sozialpolitiker in Regierung, Parteien und Gewerkschaften ihren Blick verstärkt auf die unteren Randgruppen gerichtet – in der Sorge, dass die bürgerliche Mitte bröckelt. Damit soll Schluss sein, findet die Chemiegewerkschaft (IG BCE). „Entgegen mancher Einschätzung ist die Arbeitnehmermitte keineswegs erodiert“, sagt der Vorsitzende Michael Vassiliadis. „Es gibt ein großes Maß an Stabilität am Arbeitsmarkt.“

 

Grundlage seiner Mahnung auch an die Adresse der Schwesterorganisationen ist eine Studie von DIW Econ, einer Tochter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), wonach zwar ein nennenswerter Anteil der Beschäftigten befristet, in geringfügiger Teilzeit oder als Solo-Selbstständige tätig ist, doch ging diese Entwicklung nicht zu Lasten der Vollzeitbeschäftigung. Nach wie vor sind 80 Prozent der Frauen und Männer mit mehr als 19 Wochenstunden sozialversicherungspflichtig beschäftigt – meist mit einem unbefristeten Vertrag (90 Prozent). Dazu werden auch diejenigen gezählt, die einer regulären Teilzeitarbeit nachgehen.

Prekäre Jobs sind die Ausnahme

Folglich ist das Lager der normalen Arbeitnehmer seit Mitte der achtziger Jahre kaum geschrumpft, eher schon der Anteil der 18- bis 67-Jährigen, die keiner Arbeit nachgehen – etwa weil Frauen viel öfter arbeiten als früher. Die sogenannten prekären Jobs bleiben jedoch die Ausnahme.

Dennoch hat der Gewerkschaftsbund (DGB) seine Kampagnen insbesondere zum gesetzlichen Mindestlohn speziell mit der vermeintlichen Zunahme des Prekariats begründet, was ein bedeutendes Echo auslöste: „Folgt man dem politischen Feuilleton, so stirbt die Mittelschicht aus, und die prekäre Beschäftigung wird mehr und mehr zur Norm“, heißt es gleich zu Beginn der Untersuchung. Die Resultate der Studie bedeuten für die Gewerkschaften somit eine veränderte Sichtweise. Davon muss die IG BCE allerdings noch den gesamten DGB überzeugen, wenn der Dachverband seine Politik wieder mehr auf den Normalarbeitnehmer ausrichten soll.