Die sächsische Polizei hat den Rechten in Chemnitz nicht Paroli bieten können – auch weil sie das Mobilisierungspotenzial der Szene unterschätzt hat. Läuft im Freistaat grundsätzlich etwas schief?

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Chemnitz/Stuttgart - Am Tag nach dem Aufruhr von Chemnitz gibt es wieder einmal mehr Fragen als nachvollziehbare Antworten. Wie kann es zum Beispiel sein, dass die sächsische Polizei eine Demonstration der rechten Szene nicht so eindeutig in Schach halten kann, dass Zusammenstöße mit Gegendemonstranten vermieden werden? Läuft da – ein alter Verdacht – Grundsätzliches schief im Freistaat?

 

Die Bilanz des Montagabends wirkt hässlich: 18 Demonstranten und zwei Polizisten kamen zu Schaden. 43 Strafanzeigen wurden gestellt – zehnmal wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (gemeint ist der Hitlergruß) –, elfmal wegen Körperverletzung. Diese Bilanz ist auch ein Resultat polizeilicher Defensive. Angekündigt waren aufseiten der rechten Bewegung Pro Chemnitz zunächst 1000 Teilnehmer. Letztlich kamen 6000 – nicht nur aus Sachsen, sondern auch aus Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen. Aus dem linken Lager beteiligten sich 1000 statt der erwarteten 500 Menschen an der Gegendemonstration Chemnitz nazifrei. Folglich reichten die 591 eingesetzten Beamten nicht aus, um die Lage voll unter Kontrolle zu behalten.

Der Verfassungsschutz soll vor einer Eskalation gewarnt haben

Dabei hatte die Polizei ihr Personalreservoir im Laufe des Montags noch erhöht, weshalb die Chemnitzer Polizeipräsidentin Sonja Penzel behauptete, dass ausreichend Kräfte angefordert worden seien – man sei „gut vorbereitet“. Und Innenminister Roland Wöller (CDU) befand: Es seien zusätzliche Kräfte vor Ort, damit Gewalttäter nicht die Oberhand gewinnen könnten. Dies erwies sich als Irrtum. Der Warnschuss vom Sonntag, als nach einer tödlichen Messerattacke auf einen 35-Jährigen etwa 800 Rechte durch die Straßen gezogen waren und sich etliche an Hetzjagden beteiligten, wurde demnach nicht erhört. Dies gilt auch für interne Signale: Der „Tagesspiegel“ berichtet von einer „Lagebewertung“ des sächsischen Verfassungsschutzes, der vor Extremisten, Hooligans, rechten Kampfsportlern und weiteren Angehörigen der rechten Szene aus der Republik gewarnt hatte. Das Tötungsdelikt an einem deutschen Staatsangehörigen „unter Beteiligung von Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund bewirkt einen sehr hohen Emotionalisierungsgrad“, heißt es in dem Papier.

Innenminister lobt die Beamten – trotz „alarmierender Bilder“

Doch in der Defensive schließt man erst mal die Reihen und sucht die Ursachen woanders. „Das hat uns alle überrannt“, sagte Cathleen Martin, die sächsische Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) unserer Zeitung. Mit dieser Dynamik der Proteste und dem Aufschwung durch die sozialen Medien habe niemand gerechnet. „Die Polizei hat ihr Bestes getan, um die Gruppen zu trennen und keine weiteren Straftaten zuzulassen.“ Die Führung habe richtig gehandelt. Innenminister Wöller lobt trotz „alarmierender Bilder“: „Die eingesetzten Beamten haben einen verdammt guten Job gemacht.“ Dennoch sollen die polizeilichen Maßnahmen in Chemnitz erheblich ausgeweitet werden.

Aufgrund der Personalknappheit dürfte dies ohne fremde Hilfe, wie sie etwa Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) anbietet, schwierig werden. Vor etwa 20 Jahren hatte die Polizei in Sachsen noch mehr als 15 000 Kräfte – seither wurde kontinuierlich auf knapp 12 000 abgebaut. Erst im Vorjahr hat die Landesregierung den Stellenabbau gekappt – aber ein Zuwachs entspringt daraus nicht. Bei einem geplanten Aufbau von 700 Neueinstellungen jährlich müssten auch die jeweils 500 Abgänge berücksichtigt werden, sagte Cathleen Martin. Um die Wunschzahl der Regierung von 14 000 Kräften zu erreichen, werde es „noch ewig dauern“. Sachsen habe offiziell nur sieben Einsatzhundertschaften. Stießen die eingesetzten Einheiten wie in den vergangenen Tagen an ihre Kapazitätsgrenze, ließe sich die Zahl der Einsatzkräfte kaum erhöhen.

Beamte wollten nicht in den „Mob“ hineingehen

Dennoch: Wie kann es sein, dass Neonazis vor den Augen der Polizei den Hitlergruß zeigen, ohne festgenommen zu werden? In den „Mob“ hineinzugehen wäre eine „Gefährdung für die Beamten in der vermeintlichen Unterzahl gewesen“, sagt die DPolG-Landeschefin. Zudem hätte dies „erneute Straftaten provoziert“, denn das „Gewaltpotenzial im Mob wäre erheblich gestiegen“. Angesichts dieser „gefährlichen Dynamik“ wären weitere Verletzte zu befürchten gewesen, so die Kriminalhauptmeisterin. Stattdessen seien die Straftaten mit Fotos und Videos dokumentiert worden, um Beweise zu sichern und Täter zu ermitteln. Folglich twitterte die Polizei Sachsen am Dienstag: „Uns wurden (. . .) insgesamt 10 Verstöße § 86a StGB in Form von Hitlergrüßen bekannt und entsprechende Ermittlungsverfahren eingeleitet.“ Von mehreren Betroffenen seien die Personalien noch vor Ort erhoben worden.

Handlanger der Pegida-Bewegung?

Trotzdem bleibt der immer wieder belebte Verdacht, dass die Polizei im Umgang mit den rechten Demonstranten zu milde ist. Pflegt sie eine zu große Nähe zur rechtspopulistischen Szene? Den Vorwurf, ein Handlanger der Pegida-Bewegung zu sein, weist ein Polizeisprecher zurück: „Das ist aus der Luft gegriffen“, sagt er. Dies sei „in keinster Art und Weise“ so, versichert auch die Gewerkschafterin Martin. Sie kenne sogar Polizisten, die mit den linken Autonomen in Leipzig-Connewitz sympathisierten. Als private Haltung sei das in Ordnung. Solange sich die Polizisten an das Mäßigungsverbot hielten, könnten sie im Prinzip tun, was sie wollen. „Im Dienst sind sie aber nicht auf dem rechten Auge blind“, betont sie. Es gebe auch Lehrgänge zum Umgang mit der Integration von Flüchtlingen bei der Polizei – „aber diese Arbeit müsste man eher mit der überforderten Bevölkerung machen, damit sich der rechte Mob ihrer nicht bedienen kann“.