Roger Schöpf hat vor 37 Jahren beim Werkzeugmaschinenhersteller Chiron gelernt. Die Digitalisierung hat vieles verändert. Denn Autos von morgen müssen leichter sein, und der Motor muss höhere Belastungen aushalten.

Tuttlingen - Wenn Roger Schöpf über die Herausforderungen des Werkzeugmaschinenbaus redet, nimmt er Wörter wie Komplexität, Präzision und Beschleunigung in den Mund, Elektromobilität kommt nicht vor. Das Mitglied der Geschäftsleitung beim Werkzeugmaschinenhersteller Chiron in Tuttlingen redet stattdessen über 5-Achs-Technologie und Simulation. All dies klingt technologisch anspruchsvoll – und das ist es. 5-Achs-Technologie bedeutet, dass Greifer und Roboterarme der Werkzeugmaschine während eines Arbeitsgangs an fünf Achsen des Werkstücks, das gefertigt werden soll, herankommen. Verstanden?

 

Schöpf ist als Leiter Applikation zuständig für die kundenspezifische Ausgestaltung von Werkzeugmaschinen. Und er ist sich der Wirkung seiner Worte auf den Zuhörer bewusst. Lachend hält er sein Smartphone in die Höhe, um die Achsen zu zeigen. Dazu dreht und wendet er den kleinen Alleskönner so, dass der Betrachter erst das Display (erste Achse) und dann die Hinterseite (zweite Achse) sieht; anschließend schaut man sich das Smartphone von oben, unten und von den Seite an. All diese Seiten können in einem einzigen Arbeitsgang bearbeitet werden, ohne dass das Werkstück dafür neu eingespannt werden muss. Natürlich werden auf den Anlagen von Chiron keine Smartphones gefertigt, die Kunden des Traditionsunternehmens kommen vielmehr aus der Autoindustrie, der Medizintechnik oder aus dem Bereich Luft- und Raumfahrt.

Aufträge von E-Autoherstellern

Die Autoindustrie ist die wichtigste Kundengruppe, zwei Drittel des Umsatzes entfallen auf sie. Auf Chiron-Maschinen werden Zylinderblöcke, Antriebslager, Ölpumpengehäuse oder Kolben gefertigt. Die meisten Komponenten, die auf Maschinen der Tuttlinger produziert werden, sind sowohl für Fahrzeuge mit Verbrennungs- als auch solche mit Elektromotor. Nur gut ein Fünftel des Umsatzes hängt am Verbrenner, erläutert Chiron-Chef Markus Flik. Auch wenn diese Teile mittelfristig wegfallen, bleibt Flik gelassen: „Dafür kommen andere“, sagt er. Chiron will künftig etwa Maschinen für Batteriegehäuse anbieten. Zwei Aufträge von E-Autoherstellern liegen bereits vor.

Roger Schöpf steht seit 37 Jahren auf der Gehaltsliste des Tuttlinger Unternehmens. Er hat dort gelernt, er hat Veränderungen in der Branche hautnah miterlebt. Früher ging vieles händisch, erinnert sich der 52-Jährige. Die Komponenten wurden am Zeichenbrett konstruiert und dann zunächst ganz real als Muster in Stahl hergestellt. Die ersten computergesteuerten CNC-Maschinen kamen Anfang der 1980er Jahre auf den Markt; jeder einzelne Arbeitsschritt, den die Maschine vollziehen musste, wurde direkt vor Ort an der Maschine programmiert, erläutert Schöpf. Ein solches Vorgehen ist heute undenkbar. „Die Komplexität lässt das nicht zu“, so Schöpf.

Gebohrt und gefräst wird immer noch

Auch heute lernen Auszubildende bohren und fräsen. Doch bereits im ersten Lehrjahr steht die erste Programmiersprache auf dem Programm. „Die Mitarbeiter müssen viel abstrakter arbeiten“, so Flik. Für „die jungen Wilden“ (Flik) wie den 32-jährigen Entwickler Pascal Schröder stellen PC und Laptop kein größeres Problem dar, sagt Flik. Doch für ältere Konstrukteure war „die Umstellung mental eine große Herausforderung“, sagt er. Und nicht nur für die Konstrukteure. „Wir müssen alle 2000 Mitarbeiter auf die digitale Welt vorbereiten“, so Flik. Im Schnitt werden Chiron-Beschäftigte fünf bis zehn Tage im Jahr weiter gebildet.

Denn ohne Computer läuft nichts. Die zu fertigenden Komponenten werden virtuell konstruiert. Jede Bewegung, die die Maschine später ausführt, wird am Rechner programmiert. Anschließend wird der Produktionsprozess simuliert, also virtuell vorweggenommen. „Die Prozessentwicklung hat sich um ein Drittel verkürzt“, erklärt Flik. Und weil erst virtuell produziert wird, ist kaum mehr eine „Maschine gecrasht“, nennt Schöpf einen weiteren Vorteil. Wie bitte?

Der Crash – das gehütete Geheimnis

Die Zahl der Crashs sei ein „gut gehütetes Geheimnis“, weicht Schöpf aus. Früher ist es wohl nicht so selten vorgekommen, dass durch einen Programmierfehler – auch größere – Schäden, die in den fünfstelligen Euro-Bereich reichten, angerichtet wurden. Etwa weil Spindeln verformt wurden. Heute kommen Schäden zwar immer noch vor, aber deutlich seltener. Der Grund sind die letzten Optimierungen, wo direkt an der Maschine programmiert wird – „um die Taktzeiten um weitere Millisekunden zu reduzieren“, so Schöpf. „Es kommt vor, dass selbst erfahrene Mitarbeiter, wenn es stressig zugeht, aus versehen eine Zeile des Computerprogramms löschen“, erläutert der Chiron-Manager. Es geht ja flott zu. „Wir haben Maschinen, die haben fast die doppelte Erdbeschleunigung. Das ist, was ein Pilot in einem Kampfflugzeug erlebt“, macht Flik deutlich. Da Chiron demnächst eine Art Abstandswarner vorstellen wird, ähnlich wie ihn moderne Autos bereits haben, könnte die Zeit der Kollisionen vorbei sein.

Dafür gibt es andere Herausforderungen, die nur der Computer lösen lassen. Schröder spricht von der Geisterschicht. Das hat aber nichts mit Gruselgeschichten zu tun. Pascal Schröder geht es vielmehr um die menschenleere Fabrik in der Nacht und am Wochenende. Ziel sei, dass die vollautomatisierte Maschine selbst mitteilt, wenn mit ihr etwas nicht stimmt, erläutert der Entwickler. Und das ist alles andere als trivial. Denn die Beschäftigten müssen die Daten, die die Maschine sendet, auch richtig interpretieren. Dies sei heute bei so komplexen Maschinen, wie Chiron sie bietet, noch nicht möglich. Die Maschine teile zwar mit, wenn beispielsweise die Temperatur unerwartet steigt oder ihr ein anderes Problem zu schaffen macht. Teile der Maschine würden dann oft einfach ausgetauscht, obwohl dies vielleicht noch gar nicht erforderlich wäre, wenn man den Fehler im Detail kenne. „Das ist aber eine teure Art der Betriebssicherheit“, so Schröder. Ziel müsse sein, dass der Austausch erst kurz bevor die Maschine wirklich ausfallen würde, stattfindet. Herausfordernd ist dabei, dass auf einer Chiron-Maschine unterschiedliche Materialien wie Stahl oder Aluminium flexibel bearbeitet werden können – und die Maschinen dadurch eben auch unterschiedlich beansprucht werden.