Georgette Tsinguirides ist Ballettmeisterin und Choreologin am Stuttgarter Ballett. Und sie ist 87 Jahre alt. „Ich mache einfach weiter“, sagt sie.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

„Ich mache einfach weiter.“ Ein unspektakulärer Satz. Und so ist es: jeden Tag erscheint sie gegen 9.30 Uhr im Opernhaus, schnappt sich den Probenplan, eilt zu ihrem Zimmer, Raum BHG/2/2, um dann in Trikot und Trainingshose den Ballettsaal zu betreten. Arzttermine, so erzählte sie vor gut einem Jahr bei einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung, lege sie auf frühmorgens, damit sie rechtzeitig bei den Tänzern sein kann. Georgette Tsinguirides. Ballettmeisterin und Choreologin am Stuttgarter Ballett. 87 Jahre alt.

 

„Ich mache einfach weiter.“ Hinter dieser Bescheidenheit verbirgt sich eine großartige Leistung: Georgette Tsinguirides steht seit siebzig Jahren bei den Württembergischen Staatstheatern unter Vertrag – das ist ein bundesweit einmaliges Jubiläum. Am 1. Dezember 1945 wird sie als „Chortänzerin-Anwärterin“ angestellt, später steigt sie zur Solistin auf. Ihr Jahrhundertwerk vollbringt sie jedoch auf einem anderen Gebiet: der Choreologie. Mittels eines speziellen Notationssystems bannt sie John Crankos Ballette auf Papier und sorgt so dafür, dass Meisterwerke wie „Onegin“ oder „Opus I“ originalgetreu einstudiert werden können. Damit hält sie das Vermächtnis des bedeutenden Choreografen für alle Zeit am Leben.

Georgette, die Hüterin des Tanzerbes.

Zum Dienstjubiläum ist nun ihre Biografie erschienen, die am kommenden Samstag im Opernhaus vorgestellt wird. Susanne Wiedmann zeichnet in „Georgette Tsinguirides – Ein Leben für John Cranko und das Stuttgarter Ballett“ ihr Porträt und würdigt ihre Bedeutung für das Haus am Eckensee; gleichzeitig lässt die Tübinger Autorin ein herausragendes Kapitel Ballettgeschichte lebendig werden.

In der Pause eilt sie zu den Tänzern in die Garderobe

Ballettfans wissen es – wenn der Vorhang fällt, wandern die Blicke oft zu ihr hinauf: Die schmale Person mit dem schwarzen Haarschopf sitzt bei jeder Vorstellung in der Ballettmeisterloge im ersten Rang; in den Pausen eilt sie in die Garderobe, um ihren Schützlingen ein Feedback zu geben. Die Choreologin liebe es, mit den jungen Tänzern zu arbeiten, was sie wiederum jung halte, schreibt Wiedmann. Und die Tänzer liegen ihr zu Füßen: „Mit ihrem unschätzbaren Wissen ist sie für die Tänzer wie ein Magnet, weil sie nicht nur Schritte und Takte vermittelt, sondern Crankos Idee und Geist.“ Der Intendant Reid Anderson findet starke Worte: Tsinguirides sei „ein Gigant“, „eine Meisterleistung der Natur und eine Naturgewalt“.

Georgette Tsinguirides wird am 27. Februar 1928 in Stuttgart geboren, ihre Mutter ist Deutsche, der Vater Grieche. Georgette wächst mit ihrer älteren Schwester Elea in der Calwer Straße auf, bei der Großmutter, Maria Vogel. Denn Christos Tsinguirides, der in Stuttgart eine kleine Zigarettenfabrik betreibt, lebt bald in Thessaloniki, um seinen Traum von einer Radiostation zu verwirklichen; die Mutter, Maria Luise Vogel, stirbt 1932 im Alter von 35 Jahren.

Die ersten – vor der Oma verheimlichten – Schritte im Ballettunterricht als Siebenjährige, drei Jahre später die Bühnenpremiere, die Kriegsjahre, der Neubeginn im wie durch ein Wunder unversehrten Opernhaus, die Anstellung im Alter von siebzehn Jahren: Wiedmann verwebt in ihre faktengespickte, dabei flüssig erzählte und bilderreiche Biografie die jüngere Geschichte des Balletts, das vor dem Krieg noch als „moralisch bedenklich“ gilt und auch danach lange keine anerkannte Theatersparte ist.

Die erste Choreologin Deutschlands

Die Cranko-Ära bringt die Wende – für das Ballett, für Georgette Tsinguirides. Der Südafrikaner schickt sie 1965 nach London, um dort die „Benesh Movement Notation“ zu studieren, ein Schriftsystem, das auf fünf Linien basiert, stellvertretend für die Körperregionen Fuß, Knie, Hüfte, Schulter und Kopf. Jede kleinste Bewegung, die Position im Raum sowie die Konstellation der Tänzer kann mit winzigen Symbolen dargestellt werden.

Als erste Choreologin Deutschlands kehrt sie 1966 nach Stuttgart zurück. Seitdem hat die „heilige Georgette“, wie sie in einer Anekdote ihrer Freundin und Weggefährtin Marcia Haydée genannt wird, dreißig klassische und moderne Ballette, darunter fast alle Cranko-Werke, aber auch Stücke von Gastchoreografen wie Kenneth MacMillan, John Neumeier und Maurice Béjart notiert. Bis heute leistet sie „choreologische Nachtarbeit“ daheim in ihrem Reihenhaus, weil stets Neueinstudierungen anstehen und schließlich immer etwas nachzuarbeiten ist. Gleichzeitig trägt sie das Erbe in die Welt hinaus. Mit mehr als dreißig Kompanien weltweit hat die Deutsch-Griechin Crankos Ballette einstudiert; selbst jetzt im hohen Alter ist sie unterwegs.

Millionen von Zeichen im feuerfesten Tresorschrank

Im Buch blickt man durch ihre Brille auf die „Geburtsstunde des Stuttgarter Balletts“ – den „unglaublichen Durchbruch“ mit „Romeo und Julia“ im Dezember 1962; er kommt mit Hilfe ihrer detaillierten Erinnerungen der Persönlichkeit wie der Arbeitsweise des Meisters näher, der auch schon mal seinen Aschenbecher durch den Ballettsaal schleudert. So vermittelt sich die ungeheuer kreative und produktive Atmosphäre der Jahre bis zu Crankos Tod 1973, aber auch die komplizierte, zeitraubende Leistung des Notationsgeschäfts. „Wie Georgette das alles aufschreiben konnte, ist mir wirklich ein Rätsel“, wird der Erste Solist Friedemann Vogel zitiert.

Die Autorin lässt Sternstunden und Pannen Revue passieren sowie Freunde, Weggefährten, Bewunderer zu Wort kommen, zu denen auch Egon Madsen zählt. Sie blickt in den feuerfesten Tresorschrank, in dem die kostbaren orangefarbenen Notationsordner mit Millionen von Zeichen lagern, und begleitet die Grande Dame zu den Proben. Ihr Privatleben hält Georgette Tsinguirides weitgehend unter Verschluss. Zweimal war sie verheiratet, aufgrund von Fehlgeburten blieb sie kinderlos.

Mutter ist sie dennoch: Die Kompanie ist ihre Familie, das Ballett ihr Lebensinhalt, das, woraus sie Kraft schöpft, auch mit 87. Die Tänzer verehren, lieben sie heiß und innig, auch wenn klar ist, dass Videos dabei sind, der Notation den Rang abzulaufen, wiewohl die Choreologin diese für ein unvollkommenes Mittel hält. Die Tanzpartitur sei „das einzig Wahre“, sagte sie im StZ-Interview, gleichwohl sei entscheidend, was zwischen den Zeilen liege. „Die Notation ist das eine – die Botschaft, das Warum und Wieso, das andere.“ Genau das versuche sie den Tänzern zu vermitteln, um ihnen eine eigene Interpretation zu ermöglichen. So, wie es John Cranko wollte.

Georgette Tsinguirides. Sie ist „ein Stuttgarter Ballettwunder“. Noch eins.

Siebzig Jahre Energie, Disziplin, Hingabe an das Ballett. „Ist das nicht verrückt?“, zitiert Wiedmann die Jubilarin.