Nicht wenige halten Christopher Nolan für einer der großen Regisseure unserer Zeit. Aktuell ist er als möglicher neuer „James Bond“-Regisseur im Gespräch. Nun kommt sein düsteres Weltkriegsepos „Dunkirk“ in die Kinos, das schon jetzt als Oscar-Anwärter gilt.

Stuttgart - Seit seinem Durchbruch mit „Memento“ vor 17 Jahren ist dem Briten Christopher Nolan Erstaunliches gelungen ist. Mit seiner „Batman“-Reihe hat er das Genre der Comic-Verfilmungen revolutioniert, mit „Inception“ stieg er in komplexe Traumwelten hinab und „Interstellar“ dürfte einer der aufwändigsten Science-Fiction-Filme aller Zeiten sein.

 
Mr. Nolan, erinnern Sie sich noch daran, wann Sie zum ersten Mal von der Evakuierung Dünkirchen während des Zweiten Weltkriegs 1940 hörten?
Sagen wir mal so: ich kann mich nicht an eine Zeit erinnern, in der ich noch nichts davon gehört hatte. Briten wachsen mit dem Wissen um Dünkirchen auf, zumindest war das in meiner Generation so. Die damaligen Ereignisse und der sogenannte „Geist von Dünkirchen“ sind für uns nicht nur Geschichte, sondern fester Bestandteil unserer Kultur. Wobei das im Grunde natürlich für den Zweiten Weltkrieg allgemein gilt. Fast jede Familie hat einen Bezug dazu. Mein Großvater etwa war in der Air Force und starb im Krieg.
Was genau umschreibt denn der „Geist von Dünkirchen?
Bevor ich das Drehbuch zu „Dunkirk“ schrieb, hatten mein historischer Berater Josh Levine und ich das Privileg, zahlreich Veteranen der so genannten Operation Dynamo zu treffen. Wir haben allen genau diese Frage gestellt – und interessanterweise bekamen wir die unterschiedlichsten Antworten. Der Begriff hat also ohne Fragen viele Facetten. Ein Mann bezog ihn zum Beispiel ausschließlich auf jene britischen Soldaten, die vor Ort die Stellung hielten, damit ihre Kameraden, aber ja auch Franzosen evakuiert werden konnten. Das fand ich hoch interessant. Andere dachten eher an die vielen kleinen, oft ja von Zivilisten gefahrenen Boote, die von England aus kamen, um bei der Evakuierung zu helfen.
Und Ihre eigene Interpretation?
Für mich geht es bei diesem Ausdruck im kulturellen Sinne darum, dass in einer Notsituation viele zusammengekommen sind. Es geht um ein Gefühl des Nicht-Aufgebens und des Einander-Helfens. Das ist zumindest der Kern, der sich in all den Jahrzehnten nach dem Krieg jenseits der persönlichen Erfahrungen beteiligter Soldaten für uns Briten aus dem „Geist von Dunkerque“ herauskristallisiert hat.
Zum ersten Mal basiert eines Ihrer Drehbücher auf historischen Begebenheiten. Wie haben Sie sich diese Geschichte zu eigen gemacht?
Tatsächlich war der Schreibprozess dieses Mal ein anderer, was ich als ausgesprochen befreiend und erfrischend für meine kreative Arbeit empfunden habe. Gewöhnlich ist es meine erste Aufgabe, eine Welt zu kreieren, mit all ihren Regeln und Mechanismen. Durch die folgt man dann während des Schreibens den Charakteren. Oder anders gesagt: ich schaffe zunächst das Labyrinth der Erzählung und arbeite mich dort dann hindurch. Dieses Mal war das Labyrinth schon da, ich musste es nur noch für mich zugänglich machen. Dabei halfen mir die Gespräche mit besagtem Joshua Levine und die Lektüre all der Erfahrungsberichte aus erster Hand, die ich mir über die Jahre zugelegt hatte. Die entscheidende Arbeit meinerseits lag dann darin, fiktive Figuren zu erschaffen, die das Publikum durch dieses tatsächliche riesige Labyrinth führen könnten.
Ihre Erzählung ist aufgeteilt in drei Stränge: die Ereignisse am Strand, auf dem Wasser und in der Luft. Warum diese ungewöhnliche Struktur?
Mir erschien das als geeigneter Weg, diese ja doch sehr große, weit verzweigte Geschichte mit ihren unzähligen Beteiligten auf einen Film herunterzubrechen. Einerseits musste ich diese enormen Dimensionen greifbar machen, andererseits aber auch der Subjektivität gerecht werden, mit der jeder solche Ereignisse erlebt. Außerdem musste ich den Zuschauern ermöglichen, sich direkt auf die Männer einzulassen, die mitten drin stecken in dieser Geschichte. Deswegen gibt es in „Dunkirk“ auch keine Lagebesprechungen von Generälen zu sehen, die sich über Landkarten beugen, und auch keine Reden von Churchill oder anderen Politikern. Wir sehen auch den Gegner nicht, die Nazis. Ich erzähle den gesamten Film sozusagen auf Augenhöhe mit den Protagonisten. Nur eben aus drei verschiedenen Richtungen, um ein schlüssiges Gesamtbild zu erzeugen.
Jenseits der historischen Bewandtnis: was können wir heute aus den in „Dunkirk“ gezeigten Ereignissen noch lernen?
Was für eine große Frage. Keine Ahnung, ob ich die so aus dem Stehgreif umfassend beantworten kann. Aber ich denke, dass ich hier den Bogen schlagen kann zu dem, was ich über den „Geist von Dünkirchen“ gesagt habe. Die einfachste Botschaft, die in dieser großartigen Geschichte steckt, ist sicherlich die, dass sich eine vermeintlich aussichtslose Situation, eine drohende Niederlage noch in einen Sieg umwandeln lässt. Und zwar nicht nur durch eine individuelle Heldentat, sondern durch gemeinschaftliches Heldentum.
Haben Sie für sich Parallelen gezogen zwischen Evakuierungs-Bildern in „Dunkirk“ und jenen, die man heute von tausenden Flüchtlingen in kleinen Booten auf dem Mittelmeer sieht?
Man will als Filmemacher nicht zu offensichtlich und plump sein in den Bezügen, die man herstellt. Zumal sich in diesem Fall spätestens auf den zweiten Blick zeigt, dass ein solcher Vergleich an vielen Ecken hinkt. Aber selbst wenn ich über solche Parallelen bei der Arbeit an meinem Film nicht bewusst nachgedacht habe, lebe und arbeite ich doch in der gleichen Welt wie alle anderen auch und bin natürlich beeinflusst durch die gleichen Dinge, die um uns herum passieren. Mir fiel beim Blick auf die Flüchtlingsboote, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen, vor allem auf, dass sich auch in unserer High-Tech-Welt nicht so viel verändert hat. Wie bekommt man die Menschen vom Strand weg? Wie kommen sie am besten auf die Boote? Wie voll dürfen diese werden? Die physischen Fragen solcher Unterfangen sind noch immer die gleichen.
Waren die Szenen, die Sie auf dem offenen Meer gedreht haben, die schwierigsten?
Einerseits ja, vor allem auf dem Papier. Ich rief im Vorfeld der Dreharbeiten extra bei Steven Spielberg an, um mir diesbezüglich ein paar Tipps zu holen. Aber andererseits war es am Ende dann doch wieder so wie häufig: Das, worum man sich am meisten Sorgen macht, bereitet man auch am besten vor. Wir hatten alle Eventualitäten einkalkuliert, deswegen verliefen diese Szenen letztlich erstaunlich reibungslos.
Was war denn die größte technische Herausforderung, der Sie sich stellen mussten?
Eine der größten war auf jeden Fall, herauszufinden, wie man eine IMAX-Kamera in eines dieser eher kleinen Spitfire-Flugzeuge bekommt, die die Soldaten damals flogen. Wir wollten unbedingt in diesem Format drehen, weil man in keinem anderen so nah herankommt an Geschehen. Aber diese Kameras sind noch immer echte Ungetüme. Mein Kameramann Hoyte van Hoytema hat mit verschiedenen Positionen und Linsenplatzierungen experimentiert, bis er die ideale Lösung gefunden hatte, für die dann eigens Kameras nach unseren Bedürfnissen hergestellt wurden.
Die Musik von Hans Zimmer spielt in „Dunkirk“ eine entscheidende Rolle...
Schon das Drehbuch hatte ich ganz bewusst nach bestimmten musikalischen strukturellen Grundlagen geschrieben. Ich zeigte es Hans schon lange vor Drehbeginn, denn ich brauchte eine Filmmusik mit einem ganz bestimmten Rhythmus, die sich dieser Herangehensweise anpasste. Die Geschichte ist ein Paradebeispiel für einen Wettlauf gegen die Zeit, deswegen habe ich die Sache mit der tickenden Uhr sehr wörtlich genommen. Ich habe das Ticken verschiedener Uhren aufgenommen und Hans geschickt, damit er davon ausgehend seine Tracks entwickeln konnte. Worum es mir und ihm ganz und gar nicht ging, war Emotionalität. Diese aufgesetzte Kino-Sentimentalität hatte in „Dunkirk“ keinen Platz. Ich wollte ausschließlich, dass sich immer eindringlicher ein Gefühl von intensiver Spannung aufbaut, eng gekoppelt an die Soundeffekte des Films. Diesen Ansatz habe ich schon öfter verfolgt. Doch noch nie bin ich so weit gegangen wie dieses Mal, wo ich immer wieder sogar die Dialoge rausgenommen und nur auf den Ton gesetzt habe.

Das Gespräch führte Patrick Heidmann