Esslingen wurde beim CSD am Samstag zum Brennpunkt der Diversität. Fast alles ist erlaubt, und über alles wird offen gesprochen: Aufklärungsarbeit für mehr Toleranz.

Zwei schwarze Hunde spielen kurz vor Beginn der CSD-Demonstration in Esslingen miteinander auf dem Gehweg. Einer von beiden ist kein echter Hund. Es ist ein sogenannter Petplayer. Also jemand, der sich wie ein Tier verkleidet. Direkt daneben posiert eine Dragqueen, die wie eine Adlige aus dem 18. Jahrhundert gekleidet ist, für die zahlreichen Handykameras, die ihr von Passanten und anderen Demoteilnehmern entgegen gereckt werden.

 

Lea, Fabi und Dimi legen noch letzte Hand an ihrer Regenbogenfahne an und verzieren sie mit einem Edding. Die Arme werden ebenfalls noch mit kleinen Kätzchen verziert. Auch wenn es in gewisser Weise ein Partyevent sei, ist den dreien doch der ernste Hintergrund der Veranstaltung wichtig: „Es geht darum, dass man gesehen wird“, sagt Dimi, der aus Heilbronn angereist ist.

Er ist transsexuell und lebt seit ein paar Jahren als junger Mann. Geboren wurde er als Frau. Seine Eltern würden es zwar tolerieren, Pubertätsblocker oder dergleichen dürfe er aber keine nehmen. „Ich glaube, die hoffen, dass das wieder vorbei geht.“

Drei Zwischenfälle beim CSD Esslingen

Etwa 2000 Menschen demonstrierten am Samstag laut Polizei für die Rechte von queeren Menschen. Dass das noch immer nötig ist, zeigt sich daran, dass es am Rande der Veranstaltung zu drei Zwischenfällen kam, wie Jessina Zühlke, die Presseverantwortliche des CSD-Organisationsteams, berichtet: Jugendliche hätten wohl versucht, eine Dragqueen mit Eiern zu bewerfen, am Postmichelbrunnen hat wohl ein Anwohner mit einer Soft-Air-Pistole auf die Demonstrationsteilnehmer geschossen, und in der Nähe der Sankt-Agnes-Brücke gab es offenbar verbale Anfeindungen. Die Polizei bestätigt, dass in diesen Fällen ermittelt werde. „Es ist ein Wermutstropfen bei einer ansonsten rundum gelungenen Veranstaltung“, sagt Jessina Zühlke. Sie sei glücklich, dass trotz Hitze und Ferienzeit so viele Menschen nach Esslingen gekommen seien.

Überall dröhnt Lady Gaga

Auch Lea, Fabi und Dimi machten sich im Vorfeld Sorgen wegen der Sonne. Aber am Ende ging alles gut: Trotz des heißen Wetters gab es laut dem Einsatzteam des Deutschen Roten Kreuzes keine Vorfälle, die einer medizinischen Behandlung bedurft hätten. Trotz der prallen Sonne seien Hitzschläge oder dergleichen ausgeblieben.

Aus zahlreichen Lautsprechern dröhnt vornehmlich Musik von Lady Gaga, als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt. Das mit der „kein Alkohol während der Demo“-Vorgabe des Organisationsteams wird tolerant gehandhabt.

Lees (Vordergrund) verkleidet sich als Katze, um dem Alltagsstress zu entfliehen. Foto: Feicht

Petplay als Ausgleich zum Alltagsstress

Der 44-jährige Lees ist als Katze unterwegs – Lees sei sein Katzenname. Im wahren Leben hätte er einen Bürojob. Das Petplay helfe ihm, zwischendurch abzuschalten. „Es ist wie bei einem Kind, das eine Maske anlegt“, sagt der Mann aus Filderstadt. Es ginge in erster Linie nicht um Sexualität, sondern darum, mal aus sich rauszukommen. „Wenn ich eine Katze bin, kann ich einfach Sachen runterschmeißen. Wenn sich jemand als Hund verkleidet, kann er Leute nach Eis anbetteln.“ Einfach den Alltag hinter sich lassen und in eine andere Rolle schlüpfen, ähnlich wie es beispielsweise Menschen machen würden, die militärische Schlachten nachspielen. Nur soll die Rolle halt unkomplizierter sein als das Menschsein.

Inii (links) und Blair verstehen sich als Kunstfiguren. Foto: Roberto Bulgrin

Inii ist als Kunstfigur gekommen. Die Grafikdesignerin ist etwas gruselig geschminkt und spärlich in schwarz und neongelb gekleidet. Um ihren Hals verlaufen gut zehn Zentimeter lange Nieten. Ihre Brüste sind nur von einem Netz und schwarzem Klebeband auf den Nippeln verdeckt. Rund vier Stunden habe die 24-Jährige in Make-up und Outfit investiert. Ihr ginge es darum, eine Figur zu erschaffen, ähnlich wie es in virtuellen Welten möglich ist – nur halt im realen Leben. Mit Sexualität habe das erst einmal nichts zu tun. „Wieso sollte man sich nur in Videospielen eine Figur kreieren dürfen?“, fragt sie.

Ohne Fächer geht nichts an diesem sonnigen Tag, wenn möglich, laufen die Teilnehmer im Schatten. Ein „Awareness-Team“ sorgt dafür, dass es den Teilnehmern gut geht. Sie versorgen die Demonstranten bei Bedarf mit Snacks, Sonnencreme, Wasser oder vermitteln bei Streitigkeiten.

Offen über seine sexuellen Vorlieben sprechen

Auch René aus Kirchheim ist es zu heiß. Deswegen sei er im luftigen Werder-Bremen-Trikot gekommen. Von dort stamme er ursprünglich. Fußballtrikots seien nur ein Fetisch von ihm, normalerweise stehe er eher auf Latex. Er spricht offen über seine sexuellen Vorlieben. Zu offen, um es ohne Altersbeschränkung wiedergeben zu können – nur so viel: Es geht hart zu. „Bis ich so frei über meine Vorlieben sprechen konnte, war es ein langer Weg“, sagt er. Erst mit 23 habe er gemerkt, dass er schwul sei und dass er auch abseits davon sexuell etwas anders ticke als der Durchschnitt.

Für René war es ein langer Weg, bis er offen über seine Vorlieben sprechen konnte. Foto: Feicht

Die Demonstration kommt auf dem Platz vor dem Rathaus an, wo noch eine Kundgebung stattfindet. Viele suchen sich ein Plätzchen im Schatten. Ein schwarzes Pferd mit Flügeln nimmt kurzzeitig die Maske ab, um durchzulüften. Darunter kommt ein verschwitzter Mann mittleren Alters zum Vorschein, an dem man vermutlich einfach vorbeigelaufen wäre, würde er Alltagskleidung tragen. Aber heute scharen sich die Menschen um sein imposantes Erscheinungsbild, heute stehen Menschen wie er im Mittelpunkt.

Historie des Christopher Street Days

Ursprung
 Der CSD geht auf den ersten bekannten Aufstand der Trans- und Homosexuellen in der Christopher Street in New York im Jahr 1969 zurück. Im Stonewall-Aufstand kam es wegen Polizeiwillkür zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Stuttgart
 In der Landeshauptstadt wurde erstmals am 30. Juni 1979 für die Rechte der Homosexuellen demonstriert. Damals waren es laut Angaben des CSD-Stuttgart 400 Menschen.

Esslingen
 Am Samstag, 25. Juni 1988, demonstrierten rund 350 Menschen erstmals in der Stadt. Einige Schriftstücke der „Rosa Zwiebel“, einer Initiative von Esslinger Schwulen in den 1980ern und 1990ern, liegen inzwischen im Esslinger Stadtarchiv.  Seit dem Jahr 2023 finden jährlich Demonstrationen statt. Zum ersten CSD kamen etwa 1500 Menschen. Rund 50 Ehrenamtliche hatten die Veranstaltung ins Leben gerufen und waren überwältigt vom Erfolg der ersten Demo.