Ohne Parade mag der CSD 2020 eher still als schrill sein – doch Corona bremst den Stolz und die Botschaft nicht. Unter freiem Himmel wird am Freitagabend bei der Eröffnungsgala im Römerkastell die Vielfalt gelungen gefeiert.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - „Ich hab voll den Witzestau“, sagt der in Köln mit Mann und Hund lebende Comedian Markus Barth. Da muss was raus! Die Enthaltsamkeit ohne Publikumskontakt ist nicht gut für den Körper! Bei der Eröffnungsgala des Stuttgarter CSD am Freitagabend beim Open-Air-Festival Kastellsommer vor der Phoenixhalle hat sich der 43-Jährige endlich vom Druck befreit. Happy pride!

 

Beim Blick auf die 150 Besucherinnen und Besucher, die auf Liegen, Euroapalettensofas, Schaukelstühlen und anderen Lounge-Möbeln in einer lauen Sommernacht gut drauf sind, freut sich Barth über das „fröhlichste Corona-Lazarett“. Entertainerin Désirée Nick fühlt sich gar an eine „Gartenparty im Buckingham Palast“ erinnert – so großzügig platziert ist das Publikum auf einer der schönsten Live-Bühnen des Corona-Sommers.

Désirée Nick freut sich: „Alte Ruinen wirken am besten in der Abenddämmerung“

Ihr Alter gibt die hochgewachsene, schlanke Lästerschwester mit „39 plus Mehrwertsteuer“ an. Dass sie auf die Bühne darf, als die Sonne bereits untergegangen ist, findet die Berlinerin gut: „Alte Ruinen wirken am besten in der Abenddämmerung.“ Bei der Ernährung könne sie leider nicht auf Biokost achten: „Ich brauch’ alles mit Konservierungsstoffen“, sagt die 63-Jährige.

Ein Loblied stimmt sie auf „Tunten, Transen, Tucken, Schwuchteln“ an, die sie reichlich vor sich entdeckt. Ohne diese Vielfalt sei das Land arm an Mode, Musik und Spaß. „Ohne euch würden Muscleshirts nur 99 Cent kosten“, bemerkt sie trocken. Ihr Publikum preist Désirée Nick als „50 shades of Gay“ an.

Das Programm ist so vielfältig wie die Sache, um die es geht

Nur wenige Reden gibt es bei der Eröffnungsgala, trotzdem ist das Programm sehr politisch. „Vielfaltverstärker“, wie Organisator Christoph Michl sie anpreist, sprechen persönlich über ihr Leben als Mitglied der großen Rainbow-Family. Das Programm war so vielfältig wie die Sache, um die es ging: Von Swing über Poetry-Slam bis zum Burlesque-Tanz auch eines Mannes. Das Publikum war begeistert.

Comedian Markus Barth hat sich gefreut auf Stuttgart – auf die Stadt, die ihn stets aufs Neue überrascht. „Erst die Wutbürger beim Bahnhof, dann die Querdenker, jetzt die Krawallnacht, was kocht man in eure Maultaschen rein?“ fragt er und teilt aus: „Die Anarchie steht euch nicht!“

„Wir Schwulen haben den Sex, die Heteros kriegen die Kinder“

Noch immer, sagt er, braucht Deutschland den Christopher Street Day. Als einen von vielen Gründen dafür hat er im Interview mit unserer Zeitung die „diskriminierenden Regelungen“ bei der Blutspende genannt. Keinerlei Verständnis hat Barth dafür, dass Schwule nur dann ihren Lebenssaft der Medizin überlassen dürfen, wenn sie schriftlich erklären, ein Jahr lang keinen Sex gehabt zu haben. „Was soll das?“, fragt er und setzt verärgert drauf: „Ich will Blut spenden, nicht meinen Penis.“ Die noch immer geltende Regelung suggeriere, dass Männer, die Sex mit Männern haben, Krankheiten übertragen. Dies prangert der Comedian als Diskriminierung an. Und dann lobt er die Kanzlerin. Bisher sei er eigentlich kein Fan von Angela Merkel gewesen, sagt er, aber in der Corona-Krise habe sie einen tollen Job gemacht. Dafür gibt es starken Beifall.

Nicht von seiner Freundin wie ein anderer bekannter Barth erzählt dessen Namensvetter, sondern von seinem Mann, mit dem er seit fast 20 Jahren zusammen ist. „20 schwule Jahre, das entspricht 140 Heterojahren“, rechnet er vor. Dann erzählte er vom jungen Glück in seiner Kölner Nachbarschaft. Während der Quarantäne seien die beiden Heteros pausenlos übereinander hergefallen, was ihn nachdenklich stimmte, weil dies in einer fast 20-jährigen Beziehung wie bei ihm nicht mehr ganz so heftig ausfällt: „Bisher war es doch so, dass wir Schwulen Sex haben und die Heteros die Kinder kriegen.“.

Die „Schwulen-Mutti“ hat ihren neuen Freund mitgebracht

Es geht weiterhin lustig zu bei den bunten Feiertagen der LGBTQ. Die Parade, bei der sich sonst 200 000 Menschen in der City versammeln, ist gestrichen. Unvorstellbar sei der Gedanke, sagt Organisator Christoph Michl, dass der CSD „zum Superspreader-Treffen“ werden könnte. Viele wollen sich in kleinen Gruppen daheim treffen und das Geschehen im Netz verfolgen. Bei der Eröffnungsgala sitzen 150 Gäste mit Abstand im Freien. Clublegende Laura Halding-Hoppenheit ist – frisch verliebt – mit ihrem Peter Jacobi gekommen, dem Künstler aus dem Enzkreis. Außerdem gesehen. MdL Brigitte Lösch, OB-Kandidat Martin Körner, Stadtrat Andreas Winter, Aids-Hilfe-Geschäftsführer Franz Kibler, Blogger Patrick Mikolaj vom Unnützen Stuttgartwissen. Auch in diesem Jahr wird „Schwulen-Mutti“ Laura Halding-Hoppenheit zum CSD auf dem Motorrad sitzen und zur Kundgebung am 25. Juli fahren zum Schlossplatz fahren. Die 94 Formationen, die geplant waren, schicken je fünf Vertreterinnen und Vertreter. Der CSD ist in diesem Jahr nicht so laut und so schrill wie bisher, aber vielleicht um so intensiver.