Mütter und Väter von chronisch kranken Kindern stehen unter enormem Druck – und sie müssen immer funktionieren. In Nufringen gibt ihnen ein Verein nun die Möglichkeit, auch mal loszulassen.

Psychologie/Partnerschaft: Florian Gann (fga)

Nufringen - Mehr als eineinhalb Stunden haben Gail McCutcheon, Nicole und Daniela (Name geändert) darüber lamentiert, wie es ist, Mutter eines chronisch kranken Kindes zu sein. Es sind nicht die Kinder, über die sie geklagt haben. Es sind die Leute auf der Straße, die sich wegdrehen. Es sind die Ämter, die Anträge verschleppen und einen spüren lassen, dass man nervt, wenn man nachhakt. Und es ist die Tatsache, dass man irgendwann nur noch als „die Mutter“ wahrgenommen wird und nicht als eigenständiger Mensch – bis man sich schließlich selbst so wahrnimmt und aufgibt. Das ist das Problem von vielen Eltern chronisch kranker Kinder.

 

In Deutschland haben rund 300 000 Eltern ein chronisch krankes oder schwer beeinträchtigtes Kind zuhause. Sie geben täglich alles und kommen dabei oft an einen Punkt, an dem nichts mehr geht. Die Tagesabläufe sind meist bis auf die Minute durchgetaktet. Und immer muss man mit Ungewissheiten rechnen. „Wenn ihre Kinder Schnupfen haben, bedeutet das für andere Eltern, dass sie schlecht schlafen. Für uns bedeutet es, dass wir mit gepackten Koffern in der Notaufnahme stehen“, sagt Nicole. Für diesen Fall hat sie immer einen fertig gepackten Koffer zuhause stehen. Man funktioniere wie ein Akku, der immer auf fünf Prozent stehe, ohne je voll aufgeladen zu werden, sagt Gail McCutcheon, die Vorsitzende des Vereins „Mein Herz lacht“. Und trotzdem werde immer volle Leistung verlangt.

Erst einmal auch eigene Bedürfnisse kennen lernen

Damit Eltern mit diesem Hintergrund eine Anlaufstelle haben, um sich auszutauschen, hat der Verein verschiedene Gruppen ins Leben gerufen: In Rutesheim gibt es bereits länger eine Gruppe, seit Anfang Dezember treffen sich auch im Generationenreferat in Nufringen betroffene Eltern – in der Regel sind es die Mütter.

Die Leiterin des Generationenreferats, Ulrike Heckerle, hatte McCutcheon bei einem Vortrag getroffen und so den Draht nach Nufringen hergestellt. Bei den Treffen sollen vor allem die Eltern im Mittelpunkt stehen. Viele müssten erst wieder lernen, sich selbst einmal nicht hintenan zu stellen, sondern eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, sagt McCutcheon. Aber warum staut sich bei Eltern chronisch kranker Kinder so viel an?

„Viele gehen außer Haus und tun so, als wäre alles in Ordnung“, sagt McCutcheon. Auf die Frage, wie es ihr geht, antworte sie immer, dass es ihr gut gehe, erzählt Daniela, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Denn ihre Erfahrung sei: Wenn man die wahren Gefühle auspacke, seien die Menschen überfordert. Aber diese Fassade einer heilen Welt ist nur ein Schutzschild, das wird im Gespräch klar. Dahinter brodelt es. Denn der Tagesablauf mit einem chronisch kranken Kind lässt wenig Freiraum. Medikamente müssen immer zur genau gleichen Zeit verabreicht werden, Anträge etwa für behindertengerechte Kindersitze müssen geschrieben werden, die manchmal schon wieder veraltet sind, bis sie genehmigt werden. Fahrten in die Kita oder Schule müssen organisiert werden – dem Fahrdienst muss genau erklärt werden, wie mit der jeweiligen Behinderung umzugehen ist. Das sind nur wenige Beispiele aus den Erfahrungen der drei Frauen. Viele müssen sich außerdem darum kümmern, dass sich die anderen Kinder nicht vernachlässigt fühlen und die Partnerschaft nicht zerbricht. Dabei belastet sie schon das Schicksal ihrer Kinder genug.

„Wir sind keine Heulgruppe“

Daniela ging durch verschiedene Phasen, nachdem sie von der Behinderung ihres Sohnes erfahren hatte. „Am Anfang konnte ich nicht über ihn reden, ohne zu heulen“, sagt sie. Dann kam die Phase der Wut über die Krankheit des Sohnes, für die er selbst nichts kann, aber auch darüber, wie mit ihm deswegen umgegangen wird. Erst danach folgte die „ich sortiere mich“-Phase, in der sie versuchte, eben die genannten Dinge zu regeln, und irgendwann hat auch alles funktioniert. Auch ihre Partnerschaft hat diese Phasen überstanden. Bei vielen anderen ist das offenbar nicht der Fall. „Man lernt“, kommentiert das Daniela lapidar, sagt aber auch: „Das hat mich viel Kraft gekostet.“

Oft fühlen sich die Eltern chronisch kranker Kinder nicht von der Gesellschaft wahrgenommen, irgendwie ausgeblendet oder beiseitegeschoben. „Du musst immer höflich sein, sonst giltst du schnell als die überforderte Mutter“, sagt Nicole. Und wenn sie mit ihrem Sohn im Auto auf dem Behindertenparkplatz parke, werde sie oft nach dem Ausweis gefragt. Manchmal werde ihr sogar vorgeworfen, überhaupt ein beeinträchtigtes Kind geboren zu haben. „Habt ihr das denn nicht gewusst?“, werde dann manchmal gefragt, erzählt McCutcheon.

Jede der Frauen hat unzählige Anekdoten dieser Art im Gepäck. In den Gruppen wollen sie davon aber auch ein Stück weit wegkommen. Da wird auch einfach viel gequatscht und herzlich gelacht. „Wir wollen nicht als Heulgruppe rüberkommen“, sagt Daniela. Trotzdem wünschen sich die Eltern, in der Öffentlichkeit positiver wahrgenommen zu werden. Wenn andere Menschen einfach ein paar Minuten zuhören würden, wäre das schon ein großer Schritt heißt es. „Wenn wir heulen, nimm uns in den Arm“, sagt McCutcheon. Gleichzeitig brauche man aber niemanden, der einem ständig das Händchen hält, betont Daniela. „Wir wollen Akzeptanz.“