13 Mal kandidierte der Stuttgarter Ulrich Raisch als Bürgermeister, 13 Mal wurde er nicht gewählt. Jetzt tritt er in Tamm und Sersheim an.

Region: Verena Mayer (ena)

Stuttgart/Tamm - Das Publikum lacht, als der Mann am Rednerpult sagt: „Wenn der Krieg zu uns kommt, muss die Natur so sein, dass wir uns selbst versorgen können. Deshalb: Landschaftsschutz ist wichtig!“ Das Publikum lacht, als er sagt: „Wenn Sie nicht wollen, dass Autos durch den Ort rasen, denken Sie daran: Es gibt auch Bodenwellen!“ Und die Menschen im Bürgersaal lachen auch, als der Mann auf der Bühne urplötzlich auf Kreislaufprobleme, die jedermann jederzeit bekommen könne, zu sprechen kommt. Als er dann aber den Mitgliedern der Feuerwehr und dem Roten Kreuz dankt, die im Falle, dass ein Besucher bei einer Veranstaltung wie dieser umkippt, immer zur Stelle sind, da klatscht das Publikum.

 

Der Mann auf der Bühne ist Ulrich Raisch Musiker und Pädagoge aus Stuttgart, 53 Jahre, geschieden, keine Kinder. In Tamm versucht er mal wieder, Bürgermeister zu werden. „Mit Vernunft und Herz“, wie er auf seinem selbst gebastelten Werbeprospektchen schreibt. Es ist seine 14. Kandidatur. Dass er es dieses Mal schaffen könnte, erwartet er selbst nicht.

Raischs Karriere als Bürgermeisterkandidat beginnt vor sechs Jahren in Affalterbach. Im Mai 2008 gibt er in dem kleinen Ort im Norden des Landkreises Ludwigsburg seine Bewerbung ab. Wenige Wochen zuvor hat er sich bereits für den Posten der Vorzimmerdame beziehungsweise des Vorzimmerherrn des Bürgermeisters beworben. „Ich wüsste nicht, was dagegensprechen würde, dass ich den Job bekomme“, sagt Raisch nach seinem Vorstellungsgespräch mit dem Bürgermeister. Als er die Ausschreibung für dessen Posten entdeckt, scherzt er – in origineller Logik und mit eigentümlichem Humor: „Ich kann doch nicht meine eigene Sekretärin werden“ – und bewirbt sich auch auf die Bürgermeisterstelle.

Vor Gericht bekommt er Recht

Raisch wird weder das eine noch das andere. Bei der Wahl erhält der Künstler keine sechs Prozent der Stimmen, und die Stelle im Vorzimmer bekommt eine Dame. Die Suche nach einer „Sekretärin für den Bürgermeister“ sei geschlechtsdiskriminierend formuliert gewesen, sagt Raisch, verklagt die Gemeinde – und kriegt recht. Die 700 Euro Entschädigung spendet er den SOS-Kinderdörfern.

Vor seinem Bemühen, im Bottwartal Fuß zu fassen, versuchte Raisch, Beigeordneter in Friedrichshafen zu werden, außerdem in Aalen, Mannheim und in Karlsruhe. Später probierte er es unter anderem in Freudental, Löchgau, Marbach. Die Sache scheint klar: ein Fall von chronischem Dauerbewerbertum. Doch so klar ist die Sache dann doch nicht.

Ulrich Raisch ist kein Werner Tereba. Der Tier- und Menschenrechtler Tereba aus Mannheim kandidierte seit den 70ern mehr als 2000 Mal bei Bürgermeisterwahlen im Land. Außer seiner Bewerbungspostkarte bekamen die Kommunen von Aichstetten bis Zaisenhausen allerdings nichts von Tereba zu sehen.

Ulrich Raisch ist kein Bewerber vom Kaliber Helmut Palmers. Der 2004 verstorbene Pomologe aus Geradstetten trat ab den 80ern bei etwa 300 Bürgermeister- und Oberbürgermeisterwahlen an. Der Remstalrebell hatte einen Ruf wie Donnerhall und erzielte zeitweise Ergebnisse, die Amtsinhaber das Fürchten lehrten.

Ulrich Raisch ist nicht vergleichbar mit Heiko Gold von der Nein-Idee, der ausschließlich antritt, um den Bürgern eine Alternative zu bieten. Und Ulrich Raisch ist schon gar nicht vergleichbar mit Rüdiger Roger Widmann, der seit 2011 als Phantom über Wahlzettel geistert. Außer einer Postadresse in Waiblingen ist von dem Mann fast nichts bekannt. Eine (schriftliche) Interviewanfrage bescheidet er – zwischen zwei Klettertouren – mangels Interesse negativ.

53 Jahre alt und Student

„Mir ist es ernst“, versichert hingegen Ulrich Raisch, der sich verbittet, Dauerbewerber oder Spaßkandidat genannt zu werden. Raisch lässt sich, sobald eine bürgermeisterliche Stellenausschreibung im „Staatsanzeiger“ sein Interesse erregt hat, den Haushaltsplan der Kommune schicken. Man muss doch wissen, wie hoch ihre Schulden und ihre Rücklagen sind. „Ein paar Zahlen im Kopf zu haben, ist das A & O“, sagt Raisch, der sich bei Ortsbegehungen und Gesprächen mit dem Amtsinhaber weitere Informationen beschafft.

Über Tamm hat er inzwischen herausgefunden, dass die Gemeinde im vergangenen Jahr „sage und schreibe“ eine Million Euro für Personal im Betreuungsbereich investiert hat. „Als Bürgermeister werde ich darauf achten, dass die Leute, die sich um die Kinder kümmern, ihre Arbeit auch gut machen“, sagt er bei der offiziellen Kandidatenvorstellung, die er selbstverständlich auch besucht.

Ulrich Raisch hängt keine Plakate auf, er präsentiert sich nicht im Internet, und er lässt keine bunten Broschüren verschicken. Seine Botschaft steht auf drei dicht bedruckten kleinformatigen schwarz-weißen Seiten, die er bei jeder Vorstellungsrunde persönlich austeilt. Das Teuerste bei seinen Bewerbungen ist die Wählbarkeitsbescheinigung. Die kostet den Stuttgarter jedes Mal 32 Euro.

Mitglied der CDU

Ulrich Raisch lebt von den Schülern, die er an seiner Internationalen Akademie für Musikpädagogik ausbildet, sowie von Konzerten in Kirchen und in seiner Wohnung. Dort stehen, liegen und hängen so viele Bücher, dass Ulrich Raisch seine Küche in ein weiteres Arbeitszimmer verwandelt hat. Das Esstischchen ist zugleich sein Schreibtischchen. Hätte er seinen Studentenausweis nicht mehr, müsste Raisch seine Kandidaturen noch sorgfältiger berechnen. Aber so kommt er mit Bus und Bahn für 190 Euro im Jahr zu all seinen Terminen. Der 53-Jährige, der einen Abschluss in Pädagogik und Berufspädagogik hat, Zwischenprüfungen in Soziologie und Betriebswirtschaft, studiert aktuell Politik. Wenn er im Frühjahr die letzte Prüfung bestehen sollte, könnte er auch Gymnasiallehrer werden oder – ein weiterer Berufswunsch von Raisch – Leiter einer Musikschule. Vorausgesetzt, seine Partei, die CDU, kommt nicht doch noch auf die Idee, ihn für den Landtag oder den Bundestag zu nominieren.

Kann man einen, der so vielgleisig unterwegs ist, ernst nehmen? „Die Frage kommt oft“, sagt Raisch. Seine Antwort: „Ich bin für die Menschen da, die mich rufen oder wählen.“ Wieso sollten ihn Menschen zum Verwaltungschef ihres Wohnortes wählen? Seine Antwort: „Ich will, dass es für die Bürger gut weitergeht.“ Aber kann er das denn überhaupt, eine Verwaltung gut leiten? Seine Antwort: „In den Rathäusern arbeiten hervorragende Leute.“

Ulrich Raisch sieht seine Verantwortung als Bürgermeister eher im großen Ganzen. Im Entwerfen sinn- und kunstvoller Betreuungsangebote für Kinder etwa, dem Generieren zukunftsweisender Beratungsdienste für Jugendliche oder dem Kreieren eines menschenfreundlichen Umfelds für alle Bürger. Für die reibungslose Umsetzung gibt es dann ja die schon angesprochenen „hervorragenden Leute“.

Erinnerungen an vergangene Wahlen

Im Musikzimmer findet sich, außer einem Flügel, einem überbordenden Regal, einem Porträt von Brahms und einem von Chopin und noch einem Flügel auch ein Weißkopfseeadler aus Plüsch. Der Vogel ist ein Relikt aus der Wahlkampfzeit in Beilstein, der Stadt mit der gerühmten Falknerei. Neben dem Adler verstaubt eine leere Flasche, die einst mit Steinheimer Apfelsaft gefüllt war. Der Saft sollte Ulrich Raisch seinen offiziellen Auftritt bei den Steinheimer Wählern versüßen. Vom obersten Regalbrett lässt ein Stoffstorch seine roten Beine baumeln – ein Souvenir aus Großbottwar. Was Raisch von der Stadt auch in eindrucksvoller Erinnerung ist: die ungewöhnlich gut besuchte Kirche Sonntag für Sonntag. „600 Euro im Klingelbeutel sind dort keine Seltenheit“, schwärmt er noch heute.

An Markgröningen gefiel dem Pädagogen, dass die Stadt einen Stadtjugendpfleger beschäftigt, der alle Angebote für die Jugend koordiniert. An Schwieberdingen imponierte ihm die offene Bürgerschule, bei der ältere Bürger ihr Wissen an jüngere vermitteln. Zu Erligheim fällt Ulrich Raisch der tipptopp gepflegte Abenteuerspielplatz ein. „So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen.“ Und kommt der Bewerber auf Murr zu sprechen, findet sein Schwärmen fast kein Ende. Diese Ortsmitte – so schön, so lebendig, so vorbildlich.

13 Mal hat Ulrich Raisch in den vergangenen sechs Jahren Bürgermeister werden wollen, 13 Mal hat er nicht dürfen. Sein bis jetzt bestes Ergebnis – 7,8 Prozent in Renningen – liegt sechs Jahre zurück. Zuletzt kam er in Erligheim auf 2,4 Prozent. Dazwischen liegen Wahlen, bei denen weniger als ein Prozent ihr Kreuz bei Raisch gemacht haben.

Weiter geht’s in Sersheim

Was sagt der Verlierer dazu? Ist er traurig, dass ihn keiner ruft und er für niemanden da sein darf? Raischs Antwort lässt darauf schließen, dass er Erfolg in anderen Einheiten misst: „Das Wertvollste, was die Kandidaturen bringen, sind die Begegnungen mit Land und Leuten. Was man da lernen kann, ist so bereichernd.“ So fährt Ulrich Raisch jedes Jahr an seinem Geburtstag zum Essen nach Beilstein – obwohl er dort 2011 nur zwei Stimmen bekam, sein mit Abstand schlechtestes Ergebnis. Aber er hat in der Stadt eben auch einen „sehr guten und günstigen Griechen“ entdeckt.

In Hemmingen hat ein Wähler Ulrich Raisch einst gefragt, was er sich von einer Fee wünschen würde, wenn er könnte. Raisch antwortete: „Ich bin die Fee.“ In Tamm antwort Raisch auf die Frage, was er den Tammern ans Herz legen möchte: „Eine Demokratie lebt von hoher Wahlbeteiligung. Gehen Sie zur Wahl!“ Dafür bekommt er tosenden Applaus.

Heute stellt sich Ulrich Raisch den Wählern in Sersheim vor, wo am 12. Oktober auch eine Bürgermeisterwahl ansteht. Er bewirbt sich also in Sersheim, obwohl die Wahl in Tamm noch gar nicht gelaufen ist? Ein bisschen ungünstig sei das schon, bekennt der Kandidat. Aber er sei sicher, dass die Leute das nachvollziehen könnten.