Chuck Ragan und seine Camaraderie haben am Donnerstag im Stuttgarter LKA großartige Songs und eine unbändige Lust zu spielen präsentiert. Und eine Demut, die man so nicht oft trifft.

Stuttgart - Chuck Ragan ist wohl einer der nettesten Menschen der Punk-Rock-Szene. Das ist keine besonders gewagte These. Dazu muss man nur die Lobeshymnen anderer Künstler über den US-Sänger lesen, oder selbst mit ihnen darüber sprechen. Der Sänger Rocky Votolato etwa erzählte in einem Interview mal, er habe noch nie eine so durch und durch nette Person getroffen.

 

Im Stuttgarter LKA Longhorn hat sich dieses Bild am Donnerstagabend wieder einmal bestätigt. Ragan konnte dem Publikum, seiner Band, den Roadies, den Konzertveranstaltern, den Leuten von der Venue etc. gar nicht oft genug sagen, wie dankbar er ist. Das Schöne ist: man nimmt es ihm wirklich ab.

Aber mal von vorn. Als Chuck Ragan samt seiner Camaraderie die Bühne betritt, haben vorher schon der großartige Tim Vantol aus den Niederlanden (der zwar ganz allein auf der Bühne etwas verloren wirkte, aber zu hundert Prozent ins Camaraderie-Konzept passt) und die stimmungsvollen Skinny Lister aus Großbritannien (große Show mit guter Laune, aber so richtig wollte der Funke nicht überspringen) dem Publikum eingeheizt.

Neue Songs und alte Bekannte

Danach ist Ragan an der Reihe, begleitet von seiner Camaraderie: Joe Ginsberg am Bass und der bärtige Jon Gaunt an der Geige, ohne die man sich Chuck Ragan live schon gar nicht mehr vorstellen kann. Außerdem dabei: der Drummer von Hot Water Music und Bouncing Souls, George Rebelo, sowie der Pedal Steel-Gitarrist Todd Beene. Es sind vor allem neue Songs vom aktuellen Album „Till Midnight“, die Ragan, der statt langer Haare nun langen Bart trägt, und seine Band zum Besten geben. Ragan singt und grölt sich die Seele aus dem Leib, von „Vagabond“ über  „Non-Typical“ bis zu „Revved“ - ganz sicher eine weitere musikalische Liebeserklärung an Ragans Frau Jill, die zuhause in Nordkalifornien mit den beiden Labrador-Mädchen Ella und Sadie auf ihn wartet.

Dann gibt es Probleme mit Ragans Gitarre, der Roadie sprintet hin und her. Als er nach getaner Arbeit wieder im Hintergrund verschwinden will, ruft der Sänger ihn zu sich, nach dem Motto, so nicht, mein Freund. Er legt seinen Arm um den Helfer im Sea Shepherd-T-Shirt und erklärt den Stuttgartern, wie toll dieser junge Mann sei, den er vor Jahren kennengelernt habe. Und dass es auf Leute wie ihn ankäme, „they’re the glue to every show“. Ragan fordert Applaus dafür ein. So etwas erlebt man auch nur mit Chuck Ragan.

Später wird er nicht müde, auch seinen Mitmusikern zu danken: „I count my blessings each and every time I get a chance to share the stage with guys like these.“ Am Ende, nach dem stimmungsvollen letzten Lied, dem Evergreen „California Burritos“, verneigt sich Ragan noch einmal, dieses Mal vor dem Publikum, und stellt klar: „We do not take this for granted, and we do not think we deserve this.“ Dann huschen die Musiker von der Bühne, lassen sich kurz lautstark vom Publikum zurückbitten und spielen dann noch den ebenfalls älteren Song „For Broken Ears“ und einen ganz neuen Song, „Gathering Wood“.

Als nächstes kommen Hot Water Music

Wenn Chuck Ragan das nächste Mal in Deutschland auf Tour ist, dann wahrscheinlich mit seiner alten Band Hot Water Music, mit der er groß geworden ist. So lässt er es zumindest an diesem Abend anklingen. Zur Einstimmung hat er während des Sets auch den Knaller „Drag My Body“ vom aktuellen Album „Exister“ gecovert, den er des Öfteren live spielt.

So sehr ein Hot Water Music-Konzert aber – und vor allem nach der langen Pause der Band – allemal Grund zur Vorfreude ist, so wünscht man sich doch fast noch ein bisschen mehr, Ragan möge seine Revival Tour auch in Deutschland bald wieder aufleben lassen – mit Leuten wie Tim Vantol und all den anderen aus dem Dunstkreis der Camaraderie, die Ragan über die Jahre um sich geschart hat und deren Schnittstelle außer ihrer Musik ihr Arbeitsethos ist. Ihnen allen ist Demut gemein, eine Dankbarkeit für die Möglichkeiten, die das Leben bereit hält.

Chuck Ragan ist im letzten Jahr vierzig geworden. In Stuttgart bildet man sich ein, sein Rauschebart würde an den Ecken schon leicht grau. Ob Ragan in Zukunft kürzer tritt und sich irgendwann ganz seinem zurückgezogenen Familienleben in Kalifornien widmet, fischen geht, lange Spaziergänge durch die Wälder mit seinen Hunden und seiner Frau macht oder noch mehr Gemüse anbaut – wer weiß, gegönnt sei es ihm.

In seinem Buch „The Road Most Traveled“ gibt der Sänger zu, dass er – trotz seiner Freude an der Musik und der Camaraderie – sich auf das Ende des Vagabundenlebens freut: „I do look forward to the end of the trail and taking off these boots“. Gleichzeitig wäre Chuck Ragan nicht Chuck Ragan, wenn es ihn nicht doch trotz all der Entbehrungen – die Trennung von den Lieben zuhause, der harte Touralltag – immer wieder auf die Straße ziehen würde. Als er 14 war, habe ihn sein Großvater gefragt, ob er das Gitarrespielen liebe. Ja, habe er erwidert. Darauf sagte der Großvater: „Well, you’re a damn fool if you ever put it down.“

Recht hatte er.   


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