Akrobatisches aus Australien, spirituelle Energie aus China, Coolness aus New York, Massenbewegung in Stuttgart: Am zweiten Wochenende konnte man mit Colours um die Tanzwelt reisen.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Das Festival Colours könnte analog zum berühmten Theater-Verwandten auch „Tanz der Welt“ heißen. Rund um den Globus führte die Reise an diesem Wochenende; wobei es den Programmmachern Meinrad Huber und Eric Gauthier nicht um kulturelle Differenz geht, sondern um das Verbindende, für das der Tanz steht. So zeigte die australische Akrobatenformation Circa etwa, wie unmittelbar Körper zu uns sprechen: Wenn jemand auf abgeknickten Zehen geht, wenn Sprünge auf Bauch oder Rücken eines am Boden Liegenden enden, dann leidet jeder Zuschauer mit.

 

Tanz in der City

Erster Stopp der Tanz-Weltreise ist aber der Stuttgarter Kessel. Die Schweizer Kompanie Idem tanzt umsonst und draußen; vor dem Buchhaus Wittwer liegen auf einer markierten Fläche Schuhe wild durcheinander. Wie Socken sind sie ein Symbol der Ordnung – oder eben ihrer Abwesenheit. Viel Publikum hat sich bereits um diese Anordnung versammelt, als einer der drei Tänzer sich ans Sortieren macht: weiße Schuhe hier, schwarze dort. Die Regeln sind klar, doch die anderen beiden mischen sich ein. Drei Männer auf engem Raum? Schnell sind Aggressionen im Spiel, wie sie häufig in vollen, innerstädtischen Räumen eskalieren. Anspornen, ausgleichen: Die Aktionen des Idem-Trios, mal harmonisch, mal in verlangsamten Hip-Hop-Moves, mal akrobatisch, sind unspektakulär, aber fesseln. Mancher, der nur auf eine Eisbecherlänge gucken wollte, bleibt die ganze Show.

Ein paar Meter weiter im Dorotheenquartier herrscht Strandstimmung. Aus Liegestühlen heraus verfolgen viele das, was auf der kleinen Colours-Probebühne passiert. Zum Beispiel, wie der Choreograf Jorge Cedeno Raffo dem Tänzerpaar vor ihm erst einmal eine Massage gönnt. „It’s about respect“, sagt der Kubaner, seinem Plädoyer für mehr Achtsamkeit folgt ein ebenso einfühlsames Duett.

Zuvor hatte hier am Freitagnachmittag nicht nur die Sonne, sondern auch Nadav Zelner den Tänzern eingeheizt, zum flotten Rhythmus einer Swing-Trompete versetzte er Knie, Hüften, Arme so leidenschaftlich ins Schlenkern, dass man sich eine bessere Werbung für Gauthier Dance kaum vorstellen kann. „Meet the Talents“ heißt der Uraufführungsabend, für den hier geprobt wird. Noch mehr Werbung für Colours und den Tanz überhaupt machte Eric Gauthier mit seiner Kompanie am Samstag auf dem Schlossplatz, als sie mit einem Flashmob die Massen bewegten.

Xie Xin sucht spirituelle Einheit

Shanghai ist die nächste Station der Colours-Tour, hier gründete Xie Xin, die zuvor bei Sidi Larbi Cherkaoui getanzt hatte, 2014 ihre eigene Kompanie. „From In“ heißt der Festival-Beitrag der vier Tänzer und vier Tänzerinnen um Xie Xin. In fließenden Bewegungen eröffnet ein Paar das Stück, wie junge Bäume im Wind wogen die beiden – diese harmonische Energie trägt „From In“ ohne je zu langweilen bis zum Ende, egal ob verblüffend synchron oder solo getanzt wird. Man kann das Erblühen von Knospen in diesem ganz und gar unaufgeregten Schwingen sehen oder Gesten des Schutzsuchens und des Beschützens. Nur kurz bringen britzelnder Sound und helles Licht Nervosität in den Tanz, exponieren die Fragilität des einzelnen, dann findet der Tanz wieder zu spiritueller Einheit. Doch immer wieder deutetet Xie Xin an, wie leicht diese zu gefährden ist.

Physische Wucht aus Australien

In Gefahr ist der ganze Planet, erfahren wir vom Zirkuskollektiv Circa. In „En Masse“ erzählen die Australier vom Abgrund, an dem menschliche Zivilisation und ihre Werte stehen. Trotz aller Beklemmung sorgt die Anordnung von Yaron Lifschitz für wunderbare Theatermomente. Wie Schuberts „Winterreise“-Wanderer einem endlos vorbeiziehenden Strom an Leibern begegnet, die rollen, die geworfen werden, die auf jede mögliche und unmögliche Art vorankommen, gibt seinen Worten von durchmessener Fremde und vergessener Heimat einen neuen Sog; und der Tenor Hans Jörg Mammel singt sie so klar, dass er jeden mitnimmt. Wir sehen zehn Artisten, eingesperrt in einem transparenten Plastikwürfel, die mit ihren Körpern tollkühne Brücken bauen oder Boote mit Menschenmast und –segel. Der eine, der im erschlaffenden Gehäuse übrig bleibt, schlägt Salti, obwohl ihm die Decke auf den Kopf fällt. Körper werden in „En Masse“ zu Wurfgeschossen, zu Baumaterial, zu Ballast – mit physischer Wucht fesselt dieses Stück, das Akrobatik als Notwendigkeit zeigt, als Überlebenstanz, nie als Klatschware. Das bleibt auch so, als in der zweiten Hälfte zu Strawinskys „Sacre“, vom Klavierduo Grau/Schumacher hart im Klang, präzise im Rhythmus gespielt, aus dem untergegangenen Alten neue Körpertürme sprießen. Man muss nicht einverstanden sein mit dieser Klassik-Akrobatik-Konfrontation, aber nicht nur jeder ihrer Künstler, auch ihre Menschlichkeit macht Staunen.

New Yorker Coolness

Next Stop New York: Die sieben Tänzer von A.I.M. und ihr Chef werden im Theaterhaus gefeiert wie Stars. Klar, Kyle Abraham ziert den aktuellen Titel des Fachmagazins „Tanz“, mit der Alliteration „schwarz, schwul, swag“ ist das Porträt angekündigt. Coolness haben die Künstler en masse, sie beherrschen Breakdance-Moves, ruckeln mechanisch in Doug Varones „Strict Love“ aus dem Jahr 1994, dazu erklingt eine Radiosendung mit alten Motown-Hits. Abrahams eigene Choreografien verblüffen durch klassische Posen, deren klare Linien wie im Solo „Show Pony“ sich immer wieder in korkenzieherähnliche Bewegungen auflösen. Drückt der Tanz aufs Tempo wie in „Drive“, geht leider viel an Präzision verloren. „The Quiet Dance“ zeigt, wie Abraham fast skizzenhaft eine Schulter rollen, ein Bein twisten, Hände pantomimenhaft erzählen lässt. Less is more, scheint das Motto des Abends, der vor allem durch starke Tänzerpersönlichkeiten besticht und Tanz als verbindende Kraft feiert.