Bei der neuen Show des kanadischen Cirque du Soleil treffen Poesie und Akrobatik auf „Holiday on Ice“: ein Blick hinter die Kulissen der Show „Crystal“, die im Februar 2023 in der Porsche-Arena in Stuttgart gastiert.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Die Frankfurter Festhalle ist eine riesige Rumpelkammer. Im grellen Neonlicht muss man sich an silbernen Aluminiumbäumen, einem durchsichtigen Konzertflügel, an Riesenschaufeln, bunten Sofas, Rampen, Schulbänken, Tonnen voller Hockeyschläger und Transportboxen in Rot, Blau, Schwarz und Gelb vorbeischlängeln, um zu einer trist-grauen Eisfläche und einer unförmigen Bühnenwand zu gelangen. Matratzen liegen herum. Es riecht scharf nach Reinigungsmittel. Neonfarbene Markierungen auf dem Boden zeigen den Weg ins Nirgendwo. Und eine zierliche Eiskunstläuferin seufzt: „Ich friere immer!"

 

Aber keiner kann sagen, dass man nicht gewarnt wurde. „Lasst uns in den Wahnsinn gehen!“ Das waren die Worte der Produktionsleiterin Christine Achampong, als sie die Tür zur Festhalle geöffnet hat, in der gerade mit professioneller Hektik die neue Show von Cirque du Soleil eingerichtet wird. Und tatsächlich braucht es viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass hier in ein paar Stunden dieser etwas andere Zirkus in eine zauberhafte Welt entführen wird; dass hier in ein paar Stunden in einem Rausch aus Klängen und Farben Eiskunstlauf und Akrobatik aufeinandertreffen; dass hier in ein paar Stunden die 42. Kreation der Kanadier Premiere feiern wird: „Crystal“ heißt das Spektakel, das im Februar dann auch in Stuttgart gastiert.

Eine kunterbunte Inszenierung

Erstmals wagt sich der Cirque du Soleil aufs Eis. Er erzählt die Geschichte des eigenwilligen Mädchens Crystal, das auf einem See Schlittschuh laufen geht, durchs Eis bricht und sich in einer seltsamen labyrinthischen Spiegelwelt wiederfindet. Crystal ist ein bisschen Alice aus „Alice im Wunderland“, ein bisschen Dorothy aus „The Wizard of Oz“, die Show wird zu einem Selbstfindungstrip und zu einer Ode auf die Macht der Fantasie.

Es gibt in „Crystal“ Platz für kunterbunt arrangierte Kindheitserinnerungsfetzen, für Stummfilmkomik, für Staunen und Schwelgen, für opulente Walzer, für überdrehten Gypsy-Swing und für Coverversionen von Pophits wie Sias „Chandelier“. All die Gegenstände, die am Nachmittag noch scheinbar unnütz irgendwo hinter der Bühne im Weg standen, bekommen in dieser glitzernden Show Bedeutung. Und die zierliche Eiskunstläuferin, der immer kalt ist, wird man auch wiedersehen.

Eiskunstlauf, der in die Luft geht

Denn vor allem löst „Crystal“ virtuos Grenzen zwischen Akrobatik und Eiskunstlauf auf. Schon bei der Eröffnungsnummer, in der mit einer fantastischen Bühnenidee das Einbrechen ins Eis inszeniert wird, wetteifern Eisläufer und Artisten mit ihren Sprüngen und Drehungen um die Gunst des Publikums. Später trifft auf dem Eis Luftakrobatik auf klassischen Paarlauf, Stangenakrobatik auf Stepptanz, Balancierkunst auf Trapezeinlagen, Jonglage auf Extrem-Eislauf. Am schönsten finden diese beiden Welten in einer Szene namens „Ballroom“ zusammen, in der die Eiskunstläuferin Hjordis Lee, die Crystal spielt, eine Art Pas de deux mit dem Akrobaten Darren Trull tanzt, der an einem Seil von der Decke hängt. Wie hier zu Beyoncés „Halo“ Eistanz mit betörenden Wirbeln in luftige Höhen erweitert wird, hat man so noch nicht gesehen.

Die „Ballroom“-Szene aus „Crystal“ Foto: Cirque du Soleil

Kein Wunder, dass diese Szene auch zu den Lieblingsszenen der zierlichen frierenden Eiskunstläuferin gehört, die Stina Martini heißt und aus Graz stammt. Seit März 2022 gehört sie zum Cirque-du-Soleil-Ensemble und erweist sich als gute Werbebotschafterin für „Crystal“: „Das ist eine der besten Shows, die ich je gesehen habe“, sagt sie am Nachmittag vor der Frankfurt-Premiere, also zu einem Zeitpunkt, als die Halle noch eher wie die Abstellkammer einer nicht besonders ordentlich veranlagten Eiskönigin aussieht und nebenan Artisten einarmige Handstände trainieren, in der improvisierten Kostümabteilung eine Etage tiefer Perücken neue Locken bekommen und zerrissene Bühnenoutfits repariert werden, und auf der Eisfläche Darren Trull und Hjordis Lee gerade die „Ballroom“-Szene proben.

Stina Martini ist zwar noch neu bei „Cirque du Soleil“, aber schon eine ganze Weile im Geschäft. Dreimal war die 29-Jährige mit Severin Kiefer österreichische Paarlaufmeisterin. Sie war bei der fünften Staffel von „Dancing on Ice“ die Partnerin von André Hamann, sie ist mit „Disney on Ice“ getourt – und wenn man sie fragt, in welchem Land sie noch nicht aufgetreten ist, muss sie lange überlegen, ohne dass ihr eine Antwort einfällt.

Stina Martini in „Crystal“ Foto: Cirque du Soleil

15 Eisläuferinnen und Eisläufer

Martini ist eine von den 15 Eisläuferinnen und Eisläufern im Ensemble. Sie spielt viele Rollen, hat zum Beispiel in den Szenen „Liebeswerben“ und „Rückkehr der Reflexionen“ große Auftritte, muss sich dazwischen hinter der Bühne in einem kleinen Zelt immer wieder umziehen. Und weil es dann dunkel ist, ergeben auch die seltsamen Neonmarkierungen auf dem Boden endlich Sinn.

Und obwohl sie ihren Job liebt, verrät Stina Martini, dass sie nicht ihr ganzes Leben in der Eishalle verbringen möchte und sich vorstellen kann, irgendwann mal als Grundschullehrerin zu arbeiten. Doch erst in ferner Zukunft. Erst einmal heißt es: weiterhin mitansehen, wie sich Hallen Abend für Abend von einer Rumpelkammer in eine Zauberwelt verwandeln, weiterhin nach jedem Finale den Applaus des Publikums genießen – und weiterhin frieren.

Cirque du Soleil: Crystal

Show
„Crystal“ ist die 42. Show des kanadischen Cirque du Soleil, der im Jahr 1984 gegründet wurde. Es ist die erste, die auf einer Eisfläche spielt. Die Premiere fand bereits im Dezember 2017 statt, wegen der Pandemie musste die Tournee aber lange pausieren.

Termine
„Crystal“ gastiert vom 22. bis 26. Februar 2023 in der Porsche-Arena in Stuttgart. Vorstellungen sind Mittwoch und Donnerstag jeweils um 20 Uhr, am Freitag um 16 und 20 Uhr, am Samstag um 12, 16 und 20 Uhr, am Sonntag um 13 und 17 Uhr.