Die Gruppe „Ziviler Marsch für Aleppo“ ruft zu einem Friedensgang von Berlin in das Kriegsgebiet auf. Etwa 3000 Teilnehmer erwartet die Initiatorin Anna Alboth am ersten Tag. Wie ein junger Mann aus Stuttgart fünf Monaten auf der Balkanroute entgegenblickt.

Stuttgart - Voriges Jahr um diese Zeit lag Alexander Stotkiewitz noch im Bett: Zehn Uhr morgens am zweiten Weihnachtsfeiertag. Am Tag davor hatte die Familie wie jedes Jahr bei seiner Oma gefeiert. Der Bauch spannte von zu vielen Plätzchen, das Wetter war garstig, aber die Daunendecke machte der Kälte den Garaus. Weihnachten eben.

 

Dieses Jahr wird Alexander Stotkiewitz am zweiten Weihnachtsfeiertag um zehn Uhr morgens weit weg von seinem Bett sein – auf dem Tempelhofer Feld in Berlin, dem Treffpunkt der Gruppe „Ziviler Marsch für Aleppo“, bereit zum Abmarsch nach Aleppo. Fünf Monate wird es dauern, schätzt Stotkiewitz, die Balkanroute in entgegengesetzter Richtung zu beschreiten. Kalt und anstrengend wird der Marsch werden. Stotkiewitz macht es nichts aus. „Ich bin voller Tatendrang“, sagt der 28-Jährige aus Bietigheim-Bissingen nördlich von Stuttgart. „Es geht darum, dass wir es einfach nicht mehr ertragen können, nichts zu tun.“

Youtube, Twitter, Facebook: Unzählige Dokumente des Syrien-Kriegs

Von einer Bekannten erfuhr Stotkiewitz im November von der Gruppe „Ziviler Marsch nach Aleppo“. Eine weiße Flagge auf rotem Grund schmückt die Webseite der Friedensaktion. Darunter eine Videobotschaft der Initiatorin Anna Alboth: „So viele Menschen posten, dass sie nichts tun können“, spricht die junge Frau in die Kamera.

Dank Youtube, Facebook und Twitter ist der Syrien-Krieg zu einem der bestdokumentierten Konflikte der Geschichte geworden. Doch sich durch die Bilder und Videos zu scrollen, lässt viele Nutzer mit einem Gefühl der Machtlosigkeit zurück. Dem will Alboth etwas entgegensetzen: „Ich glaube, wir können etwas tun“, sagt sie in ihrer Videobotschaft. Einen Tag, nachdem Stotkiewitz die Webseite gesehen hatte, legte er seinem Chef die Kündigung auf den Tisch.

„Aus Portugal, Frankreich, Belgien rufen die Leute an“

Etwa 3000 Teilnehmer erwartet Alboth für den ersten Tag der Aktion. Letztlich, sagt sie, war es ihr neuer Mitbewohner, der ihr den Anstoß dafür gegeben habe. Im vergangene Herbst nahmen die 32-Jährige und ihre Familie einen Mann aus Syrien bei sich auf. „Seitdem berührt uns alles noch viel unmittelbarer, was in Syrien passiert“, sagt die Journalistin, die aus Polen stammt. „Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, nichts zu tun.“ Als sie auf Facebook die Idee postete, nach Aleppo zu gehen, hätten innerhalb weniger Stunden Hunderte geantwortet. Die Idee für den Marsch war geboren.

Jetzt sind die Vorbereitungen in vollem Gange. „Die Leute rufen aus Portugal, Frankreich, Belgien an, dass sie Tickets nach Berlin gekauft haben. Allein aus Breslau kommen etwa 200 Menschen, um mitzumachen. Ich schlafe nur noch sehr wenig“, sagt die 32-jährige Alboth. Es gibt viel zu tun.

Etwa 130 Menschen sind laut Alboth mittlerweile an der Organisation beteiligt. Sie haben sich in verschiedenen Teams organisiert. Eines sucht nach Ärzten, die den Tross begleiten. Eine Gruppe von Anwälten prüft die Rechtslage für Demonstrationen in den Ländern, durch die der Marsch führen soll. Andere kümmern sich um die Logistik, kontaktieren Kirchen, Schulen, NGOs entlang des Weges, zum Beispiel für Schlafmöglichkeiten in Turnhallen. Auch Fahrzeuge sollen den Marsch begleiten, um Gepäck und heißes Wasser zu transportieren. Der Logistik-Gruppe hilft auch Alexander Stotkiewitz aus Bietigheim-Bissingen. Eine weiteres Team überlegt sich Szenarien, wie der Marsch enden könnten. Dass sie wirklich über die syrische Grenze gelangen, gilt als unwahrscheinlich.

Kritik an der Aktion: Was solle der Marsch bezwecken?

„Ich bin nicht naiv“, sagt Anna Alboth am Telefon. „Mir ist klar, dass wir vor Ort nichts ausrichten können“, sagt Alboth. Vielmehr gehe es ihr darum, Menschen wachzurütteln. „Der Konflikt ist so kompliziert. Ich weiß nicht mehr, vor welcher Botschaft ich protestieren soll. Aber das heißt nicht, dass wir nichts tun können.“

Petra Becker, die bei der Stiftung Wissenschaft und Politik den Syrien-Konflikt erforscht, hält die Aktion für „eine gute Initiative. Angesichts der Tatenlosigkeit der politischen Entscheidungsträger und der Quasi-Lähmung der UNO sollten sich Menschen zusammentun, um Medienaufmerksamkeit zu erzeugen“.

Andere kritisieren die Aktion scharf. Sie sei sinnlos, posten Facebook-Nutzer. Besser sei es, Hilfsgüter zu schicken. „Das habe ich schon versucht“, sagt Alboth. 3000 Schlafsäcke habe sie mit einer Gruppe für Menschen in Syrien gesammelt, Petitionen unterschrieben und demonstriert. Aber geändert habe es eben nichts.

Mütze, Handschuhe, atmungsaktive Kleidung, um sich vom Schwitzen nicht zu erkälten: Auf ihrer Webseite gibt die Gruppe Rat, was die Teilnehmer auf den Marsch mitnehmen sollten. Alexander Stotkiewitz hat das meiste schon zusammen. Heiligabend will er wie jedes Jahr mit seiner Familie verbringen. Doch damit endet für ihn in diesem Jahr das Weihnachtsfest. Am 25. Dezember will er nach Berlin fahren. Am Tag darauf beginnt der Marsch. Google Maps gibt an: Bis nach Aleppo sind es 3191 Kilometer.