Den Mettigel findet man nicht häufig in Restaurants. Foto: KI/Midjourney/Montage: Pichlmaier
Im Berliner Clärchens Ballhaus lebt die Nostalgie auf dem Teller – mit Mettigel, frittierten Salzgurken, Königsberger Klopsen sowie Wackelpudding. Der Kopf dahinter stammt aus Mannheim.
Für Tobias Beck ist deutsches Essen vor allem auch beigefarbenes Essen. „Meine Kindheit schmeckt nach Schinkennudeln“, erzählt Beck und meint das absolut positiv. „Ein beiges Essen mit gestockten Eiern, zum Schluss mit etwas Paprika edelsüß darüber.“ Oder auch Bockwurst von der Tanke mit Senf sowie Schweineschnitzel mit Soße. Angebratene Knödel mit Soße.
Der 31-jährige Koch sitzt an einem grauen Januarmittag im neuen Restaurant von Clärchens Ballhaus, das jetzt Luna D’Oro heißt, und schwärmt vom Essen seiner wohlbehüteten Kindheit in einem Mannheimer Vorort, erzählt von seiner kulinarischen Sozialisierung und seinen eindrucksvollen Restaurantstationen. Ständig kommen Menschen herein, wollen nur „kurz schauen“ und sagen „ich habe hier früher schon getanzt“. Die Augen leuchten, Erinnerungen werden wach.
Die Mauern des Gebäudes sind voller Geschichte
Clärchens Ballhaus in der Auguststraße ist eine Institution. Es wurde 1913 von Fritz Bühler und seiner Frau Clara eröffnet. Die Mauern des Gebäudes sind voller Geschichte. Seit 111 Jahren steht es hier, hat zwei Weltkriege überstanden. Hier wurde getanzt, gelacht, geflirtet und geweint. Gekauft hat das Ensemble in der Auguststraße Mitte 2018 Yoram Roth, ein Investor, dem unweit des Clärchens, wie es die Berliner liebevoll nennen, auch das Ausstellungshaus Fotografiska mit dem Szenelokal Veronika gehört. Jetzt wird im Ballhaus wieder geschwoft und gefeiert, im imposanten Spiegelsaal im Obergeschoss. Im Erdgeschoss hat sich Lokal Luna D’Oro, das im Namen der Tänzerin Luna Dorow Tribut zollt, seit seiner Eröffnung im September zum beliebten Treffpunkt entwickelt. Das Motto: „Hier isset jut wie janz früher, nur n büschen schicker!“
Die nostalgischen Gerichte mit einer gehörigen Portion Humor hat sich Tobias Beck ausgedacht. Einer, der sich dem deutschen Geschmack verschrieben hat. Kein Wunder, dass er jetzt in Clärchens Ballhaus die deutsche Küche wieder aufleben lässt. Die nostalgischen Gerichte passen wohl nirgendwo besser hin als an diesen historischen Ort. Behutsam wurde renoviert, „Babylon Berlin“-Bühnenbildner Uli Hanisch sorgte dafür, dass hier alles so original wie möglich nachempfunden wurde. Technisch war das Haus auf dem Stand von 1936.
Frittierte Spreewaldgürkchen sind einer der Bestseller
Und auch wenn es nun moderner ist, wurde rein gar nichts dem Zeitgeist überlassen. Alles scheint aus einer Zeitkapsel entsprungen zu sein. Dass man sich im Jahr 2025 befindet, darauf lassen ein paar Querverweise schließen. Spätestens wenn die frittierten Spreewaldgürkchen und die Rechnung in Euro kommen, weiß man, in welchem Jahrzehnt man sich befindet.
Tobias Beck Foto: Conrad Bauer
Kulinarischer Direktor – wie es zeitgeistig heißt – ist Tobias Beck, er denkt sich mit dem Team Klassiker aus, die sich nicht nur auf Instagram gut machen. Beck reist und lernt und schmeckt und arbeitet in einigen Küchen. Im Noma in Kopenhagen etwa, einem Restaurant, das sich in jeder Kochvita sehr gut macht, vor allem aber im Ernst in Berlin und dann in Japan sowie in Argentinien bei Francis Mallman, wo er lernt, wie man auf offenem Feuer kocht, wie man Lämmer aufspannt, die Glut am Glühen hält: „Diese Art und Weise zu kochen hat mich sehr beeindruckt. Wir kennen hier ja nur Paprika-Nackensteaks und Schafskäse in Alufolie.“ Zurück in Berlin sorgt er dann mit dem Restaurantkonzept Ember für Aufsehen.
Würstchen, Wackelpudding, Schweineschnitzel
Seine große Leidenschaft aber ist die deutsche Küche in ihrer groben Vielfalt: Würstchen, Wackelpudding, Schweineschnitzel. Er recherchiert in alten Kochbüchern, reist durch die Regionen Deutschlands, verbringt seine Freizeit in Berliner Eckkneipen wie Zum Schusterjungen oder Diener Tattersall. Hier lernt er zum Beispiel, Kartoffeln mit Kümmel zu kochen. „In Deutschland ist es immer noch wichtiger, ein Auto und ein Reihenhaus zu haben, als gut zu essen“, sagt Beck, der für eine neue Generation von Köchen steht, die auf Arbeitszeiten und den Ton in der Küche achten.
Und es gibt derzeit einige Kolleginnen und Kollegen wie etwa im Eierhäuschen in Berlin, die sich auch auf deutsche Wurzeln besinnen. „Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, dass man einen Weg findet, mit der kulinarischen Vergangenheit umzugehen.“
Der kleine Tobias ist besessen von Essen
Mit dem Küchenchef Paul Gerber ist Tobias Beck in einem Mannheimer Vorort aufgewachsen, die Stadt ist vor allem für eine kulinarische Leistung bekannt: Hier wurde angeblich das Spaghettieis Ende der 60er Jahre erfunden. „Aber sonst gibt es nicht viele kulinarische Highlights“, sagt Beck, der auch diese süße Kindheitserinnerung auf der Karte hat. Stilecht mit weißem Papierdeckchen und silbernem Schälchen serviert.
Der kleine Tobias ist besessen von Essen. Er fragt jeden Mittag seine Klassenkameraden, was es bei ihnen zu Hause zu essen gibt, um zu entscheiden, bei wem er gerne mal kosten würde. Gerber und Beck bezeichnen sich auch als „zwei Nerds in Sachen deutscher Esskultur“, die nun die Rezepte ihrer Großeltern wieder aufleben lassen.
„Wir Deutschen haben ein zwiespältiges Verhältnis zu unserer Herkunft, die Linie ist schmal zwischen Stolz und Scham“, sagt Beck, findet aber auch: „Essen kann ein schönes Medium sein, um die Vergangenheit zu transportieren.“
Hier im Ballhaus sitzen am Abend 300 Leute, in die Töpfe und Pfannen kommt ausschließlich Bioware. Sie servieren Broiler, auch mal Maultaschen und Kartoffelsalat, aber vor allem Berliner Gerichte wie Königsberger Klopse, Kalbsleber Berliner Art und einen putzigen Mettigel aus bestem, fein geschnittenem Tatar. Der Wackelpudding kommt mit einer feisten Vanillesoße daher. Um dieses Giftgrün hinzubekommen muss ein Sirup rein, aber auch selbst gesammelter Waldmeister wird verwendet. Wenn es ein Catering im Spiegelsaal gibt, werden Partyplatten mit Nordseekrabbensalat, Pumpernickelbrot mit Leberwurst und Butter oder Würstchen im Schlafrock aufgefahren.
Himbeerrollen und deutschem Käsekuchen
Beck hat noch viel vor. Eben recherchiert er die deutsche Kuchenkultur, um im Clärchen ab März auch am Nachmittag Kaffee und Kuchen anzubieten, mit Streuselkuchen vom Blech, Donauwelle („einer der leckersten deutschen Kuchen“), Himbeerrollen und deutschem Käsekuchen.
Und Beck weiß natürlich, dass deutsche Klassiker keineswegs als zeitgemäß gelten: „Deutsches Essen folgt nicht gerade den aktuellen Trends, wenn man auf Fitness oder vegan achtet.“ Aber im Ballhaus gibt es glutenfrei und auch vegan. Angekommen im Jahr 2025. „Dieser Ort schreibt das Menü“, sagt Beck, der das Ganze mit Humor angeht. „Die deutsche Küche ist doch auch eine lustige.“ Sagt’s und meint es ganz so, ohne sich darüber lustig zu machen.