Die Not der Bundesländer bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist noch gar nicht in Berlin angekommen, meint SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel und verlangt Hilfe vom Bund und aus Europa.

Stuttgart - Die Not der Länder bei der Aufnahme der Flüchtlinge ist nach Ansicht von Claus Schmiedel noch gar nicht in Berlin angekommen. Auch auf europäischer Ebene tue sich zu wenig. Dabei könne Europa deshalb „auseinanderfliegen“. Im Land bemüht sich der Genosse, die SPD zur Baden-Württemberg-Partei zu machen.
Herr Schmiedel, Kretschmann wandert, Wolf fährt mit dem Bus durch das Land. Wo ist die SPD?
Die SPD arbeitet, jedenfalls was meine Person angeht. Ich bin viel im Land unterwegs, finde viel Unterstützung und Sympathie. Jetzt müssen wir das aber noch in Wählerstimmen ummünzen.
Ist das das Bild, das den Landtagswahlkampf prägen wird: Kretschmann und Wolf dominieren die Wahrnehmung. Die SPD muss sich ihren Platz suchen?
Es geht natürlich auch um die Frage, wer wird Ministerpräsident. Vor allem geht es aber darum, was bringt die Zukunft für das Land und die Menschen. Deshalb wird die SPD die blendende Lage Baden-Württembergs in den Mittelpunkt rücken: höchste Beschäftigungsquote aller Zeiten, die Auftragsbücher sind voll, es wird hier in Produktion investiert. Wenn es einem so gut geht, bräuchte man schon einen triftigen Grund, die Regierung nicht zu bestätigen. Den seh ich nicht.
Wie will sich die SPD das zunutze machen?
Wir müssen das mit einer neuen Geschichte verbinden. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Baden und Württemberg ein Armenhaus. Der Wohlstand kam erst mit der Industrialisierung. Industrialisierung ist aber SPD. Da muss es Klick machen. Wir sind Industriepartei, wir sind Infrastrukturpartei, deshalb hat unser heutiger Wohlstand viel mit sozialdemokratischen Werten und Impulsen zu tun. Bisher war in den Augen der Bevölkerung die CDU für Wachstum und Wohlstand verantwortlich und die SPD für Gerechtigkeit. Natürlich sind wir auf Gerechtigkeit abonniert, wir sind leidenschaftlich gerecht. Aber wir müssen weitergehen. Wir müssen sagen, nur durch die auf dem Gerechtigkeitsideal basierende Programmatik der SPD ist der Wohlstand nach Baden-Württemberg gekommen.
Das ist ein komplizierter Ansatz für einen Wahlkampf.
Nein, das ist hoch spannend. Die Parteien nähern sich in ihren programmatischen Aussagen ja an. Es gibt nur eine Chance, sich zu profilieren: man muss ins Grundsätzliche gehen. Die gute Arbeit, die gute Bildung, die gute Ausbildung sind zentral für den Wohlstand in Baden-Württemberg. Die zentralen Elemente auf denen er basiert, Innovation und gute Arbeit, gesellschaftlicher Ausgleich und Sozialpartnerschaft, das bedingt sich gegenseitig und das ist alles SPD.
Wenn das so ist, warum steht dann die SPD in Baden-Württemberg so schlecht da?
Wir haben das alles in der Vergangenheit zu wenig erzählt. Wir werden das aber jetzt in den Vordergrund rücken. Verdichtet heißt der Slogan ‚gute Arbeit, gutes Leben, gutes Land‘.
Zum Grundsätzlichen: Was ist der Unterschied zwischen SPD und CDU im Land?
Die CDU sagt, Baden-Württemberg ist spitze, aber leider nicht für jeden. Wir schauen genauer hin und fragen, woran liegt es, dass manche Erfolg haben und andere nicht, und versuchen, die Umstände zu verbessern.
Wo unterscheiden Sie sich von den Grünen?
Die SPD kommt aus der sozialen Bewegung, unsere Programmatik hat sich aus der Verbindung mit der Industrie entwickelt. Die Grünen kommen aus der Ökobewegung. Deshalb sind sie bei allen Umweltthemen sehr glaubwürdig. Unsere Domäne ist das Soziale. Deshalb ergänzen wir uns blendend, wenn es jetzt darum geht, die soziale Marktwirtschaft zu einer sozialökologischen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln.
Werden Sie im Wahlkampf bestimmte Themenfelder nicht besetzen, um sich nicht ins Gehege zu kommen?
Wir werden wenig über die Rettung der Welt reden. Da können die Grünen immer noch eine Schippe drauflegen. Wir werden über Grundlagen unseres Wohlstands reden und wie wir sie in der Zukunft sichern.
Kommt noch was, das die Koalition in Konflikte bringen kann?
Ich bin sehr überrascht, dass Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) schlankweg sagt, das Promotionsrecht bleibt weiterhin den Universitäten vorbehalten. Ich bin dafür, dass die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) bei bestimmten Themen, mit bestimmten qualifizierten Professoren und in zeitlich beschränkten Forschungsprojekten die Doktorwürde auch ohne die Universitäten verleihen können. So hatten wir es auch vereinbart. Das Thema hat einen wichtigen wirtschaftlichen Aspekt. Die HAW sind auch dazu da, die kleine und mittelständische Industrie fit zu machen für „Industrie 4.0“. Die Hochschulen müssen in Forschungsprojekten durch Promotionen Leute an sich binden können, sonst wird das eine halbe Sache.
Also Promotion auch ohne Uni, nicht nur in Promotionskollegs wie Frau Bauer sagt?
In bestimmten Fällen auch ohne Uni, sonst sind die Hochschulen für angewandte Wissenschaft wieder nur Bittsteller. Weil sie in der Vergangenheit so stark gewachsen sind, haben sie sich stark auf die Lehre konzentriert. Der Transferauftrag für den Mittelstand ist ein bisschen ins Hintertreffen geraten. Den wollen wir neu beleben. Unser Maßstab soll sein, was hilft der Industrie.
Kommt das Gesetz zur Kennzeichnungspflicht der Polizisten noch?
Darüber müssen wir nach der Sommerpause reden.
Die Bildung rückt in den Hintergrund?
Sie ist bei der SPD ja auch in besten Händen. Ein zentrales Thema der Auseinandersetzung wird aber sicher die Gemeinschaftsschule. Der CDU-Kandidat Wolf hat ja erklärt, mit ihm gebe es keine neuen Gemeinschaftsschulen. Für viele kleine Städte und Gemeinden ist aber die Gemeinschaftsschule die einzige Möglichkeit einer wohnortnahen Schule, die alle Abschlüsse anbietet und damit ein landespolitisches Entwicklungsthema. Was Herr Wolf sagt, ist eine Kriegserklärung an den ländlichen Raum.
Wird die Landtagswahl über die Flüchtlingsfrage entschieden?
Wenn wir aus dem starken Anschwellen der Flüchtlingsströme keine adäquaten politischen Konsequenzen ziehen, könnte es bei der Wahl zu einer Erschütterung kommen. Das ist weder im Interesse der SPD noch der CDU, der Grünen oder der FDP. Der Schlüssel aber liegt in Berlin. Dort ist die Not der Länder noch nicht angekommen. Das Problem ist, dass der Bund null Verantwortung für die Erstaufnahme hat. Die Länder plagen sich ab. Der Bund ruht sich auf seinen realitätsfernen Prognosen aus.
Was erwarten Sie vom Bund?
Wir haben in einer konzertierten Aktion die Zahlen aus dem Kosovo umgedreht. Es wurde zügig entschieden, viele Flüchtlinge wurden direkt aus der LEA wieder in den Kosovo zurückgeschickt. Ich verlange, das abgestimmte Verfahren auf den gesamten Westbalkan auszudehnen. Damit wird die Botschaft, die vor Ort vermittelt wird, dass es sich nicht lohnt, als Flüchtling hierherzukommen, auch glaubwürdig. Zweitens muss man den Leuten eine Alternative geben. Die Agentur für Arbeit sollte im Westbalkan Informationsbüros aufmachen, wo man sich direkt um Arbeit bewerben kann. Damit können wir deutlich machen, dass wir zwar bestimmte Arbeitskräfte brauchen, dass wir aber überfordert sind, wenn alles über den Asylweg läuft.
Sind Sie zuversichtlich?
Nein. Ich befürchte, dass der CDU-Innenminister de Maizière wieder geschönte Zahlen präsentiert.
Mit welchen Zahlen rechnen Sie denn?
Wir hatten in Baden-Württemberg im Juni 5000 Ankünfte, im Juli 10 000 und für den August rechnen wir mit 15 000. Wenn es nicht gelingt, den Zuwachs zu brechen, wird kein einziges Bundesland mit der Herausforderung fertig werden. Der Bund darf nicht länger Däumchen drehen, sondern muss jetzt endlich eine geeignete Strategie entwickeln, die diejenigen, die nicht verfolgt oder bedroht sind, auf einen anderen Pfad bringt. Die Zeit des Prüfens ist vorbei, wir brauchen Entscheidungen.
Ihre Parteifreunde regieren mit. Machen die zu wenig Druck in Berlin?
Es gibt eine Ressortverantwortung und eine Kanzlerverantwortung. Von der Bundeskanzlerin habe ich zu dem Thema noch überhaupt nichts gehört. Der Finanzminister sitzt auf seinem Geldsack und rückt viel zu wenig raus. Der Innenminister wälzt das Thema auf die Länder ab. Für Fälle, die schriftlich entschieden werden, weil sie sonnenklar sind, könnte der Bund Angehörige der Bundeswehr abstellen. Zumindest so lange, bis die 2000 Menschen, die beim Bundesamt eingestellt werden sollen, auch da sind.
Sie glauben nicht, dass es bei 52 000 Flüchtlinge in diesem Jahr im Land bleibt?
Das ist ja lächerlich. Das werden eher 100 000 als 52 000. Deshalb müssen wir Platz schaffen für die, die wir nicht abweisen können. Wenn dieser Trend so weitergeht, lässt er sich nicht mehr beherrschen. Bei den Flüchtlingen aus den Kampfgebieten des Islamischen Staates muss man auf eine gerechte Verteilung innerhalb Europas dringen. Man könnte sich jetzt mal diesem brennenden Thema zuwenden, an dem Europa auseinanderfliegen kann. Die Freizügigkeit zwischen den europäischen Staaten kann nicht aufrechterhalten werden, wenn das Zielland Nummer eins für alle Flüchtlinge die Bundesrepublik ist.