Matthias Jung entwirft das prächtigste Kaufhaus von Stuttgart. Er will damit eine Art Gegenentwurf zum Milaneo zeigen. Dabei ist die neue Mall beim Hauptbahnhof in seinen Augen keineswegs das böse Krakentier, das es zu bekämpfen gilt.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West - Gründerzeitliche Gemütlichkeit strahlt das nagelneue Luftschloss aus, das irgendwo zwischen Hasenberg und Karlshöhe prangen muss. Kleine Erker, Loggien, niedliche Türme und Treppchen, dekorierte Giebel und Pilaster aus sämtlichen Stilepochen zieren „Das West – Stuttgarts schönstes Einkaufszentrum“. Doch dieser Konsumtempel ist pure Fantasie, wenngleich seine einzelnen Bestandteile der Realität entspringen: Der Künstler Matthias Jung hat in seinem Bild Läden und Gebäudeteile, die er auf seinen Streifzügen durch den Westen fotografierte, zusammengefügt. Entstanden ist ein Kaufhaus im Zuckerbäckerstil, dessen opulente Pracht an die Grands Magasins von Paris erinnert, deren dekorative Wettrüsten seit je verzaubern und verführen.

 

Weihnachten hat Matthias Jung in seinem Bild ausfallen lassen. Im Grunde herrscht darin überhaupt keine Jahreszeit. Da stehen Leute in dicken Jacken rum, andere hocken im Freien beim Pizzaessen vorm Il Pomodoro und ein Mädchen im Sommerkleid spannt ihren Sonnenschirm auf. Auch der Giraffe, die aus dem Theater Altstadt trottet, ist offenbar warm genug. Der Künstler hat Läden zusammengespannt, die eigentlich weit auseinanderliegen. Man erkennt den Blumenlade Immergrün, die Kinderkrippe Rumpelpumpe, das Schmuckgeschäft Arkanthus, die Buchhandlung, die Kaffeerösterei Fröhlich, den Frisör Haargut sowie Lokale, Ateliers und Galerien.

Jung selbst wohnt in Asperg

Das Bild ist eine collagierte Liebeserklärung an den Stadtbezirk. „Der Westen ist baulich gesehen der homogenste Teil in der Stadt. Außerdem gibt es hier so etwas wie eine Stadtteilidentität“, sagt Jung. Er selbst wohnt zwar in Asperg, kommt aber öfters rum, wenn er urbanes Flair schnuppern, Freunde treffen oder schön Essen gehen will. „Der Westen bietet eine echte Alternative zu den Läden, die es in allen Städten gibt. Er ist bekannt für seine Dichte an kleinen Geschäften, Ateliers und Galerien. Hier gibt es ein großes kreatives Potenzial und sehr viel Eigeninitiative. Mein Bild soll diese Vielfalt darstellen.“

Angeregt zu dieser Arbeit hat ihn der neue Kaufhauskomplex hinterm Bahnhof: „Ich wollte eine Art Gegenpol zum Milaneo entwerfen.“ Dabei ist die neue Mall in seinen Augen keineswegs das böse Krakentier, das es zu bekämpfen gilt: „Also, ich habe mir das mal angesehen“, hebt Jung an. Als Kunde betrete man quasi einen eigenen Kosmos, der völlig abgeschottet sei von der Welt, in dem es kein Wetter gebe, keine Straßenmusikanten und keine Bettler. Und dennoch handele es sich keineswegs um einen kaltherzigen Kaufbunker – im Gegenteil: „Über die Werbung werden permanent meine Gefühle angesprochen.“ Bei jeder Verheißung und jedem Versprechen „wird bei mir innerlich ein Lämpchen angezündet. Permanent wird auf diese Weise mit meinem Unterbewusstsein gesprochen“, hat Jung beobachtet. Die endlosen Reize und massenhaften Waren hätten ihn zuletzt kognitiv niedergerungen: „Als ich rauskam, habe ich mich gefühlt, als hätte ich einen Zehnerpack Snickers gegessen.“ Ein hausgemachter Nussriegel aus einem Back-Atelier im Westen für selbes Geld wäre mutmaßlich bekömmlicher gewesen.