Mit den ersten drei Produktionen wird das Stuttgarter „Colours“-Festival seinem Namen vollauf gerecht. Manches ist von der visuellen Kraft eines Gemäldes der Renaissance.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Fast jeden Abend lädt Gauthier Dance das Publikum des „Colours“-Festival in die Sporthalle des Theaterhauses, um mit „Kamuyot“ die Sinne für den Hauptgang des Abends zu öffnen. Ein schmackhafteres Amuse-Gueule hätte Eric Gauthiers Company nicht finden können, denn in der Choreografie des Israelis Ohad Naharin feiern Tänzer und Publikum auf wunderbar sympathische Art Verbrüderung. „Kamuyot“, das ist Tanz auf Du und Du mit den Zuschauern: Die Kompanie bringt das Publikum in der Turnhalle nicht nur auf Augenhöhe, sondern reißt es mitten hinein ins Geschehen: Zu Beginn nehmen ein paar der Tänzer in der ersten Reihe der ringsum aufgebauten flachen Tribünen Platz, um sich von dort immer wieder in die Choreografie zu stürzen, später laden sie ihre Sitznachbarn dazu ein, einfachste Posen nachzuahmen; dann wieder gehen sie langsam an den Rängen entlang, schauen ihren Gegenübern tief in die Augen und reichen ihnen brüderlich die Hände.

 

Es ist aber nicht nur diese Umkehrung der Blickrichtung, die „Kamuyot“ zu einem besonderen Tanzerlebnis macht: Der Leiter der Batsheva Dance Company führt darin die pure Lust am Körper als nie versiegende Quelle der Möglichkeiten vor Augen, sofern man nur bereit ist, sie sprudeln zu lassen. Und genau das geschieht in „Kamuyot“, auf Basis der von Naharin entwickelten Bewegungssprache „Gaga“. Gepaart mit einem wilden, die Musikstile plündernden Soundtrack – Klassik, Reggae, Swing, Asia-Pop – kann dieser Tanzenthusiasmus gar nicht anders als ansteckend sein, der Applaus des Premierenpublikums am Freitagabend will nicht enden.

Die visuelle Kraft eines Renaissance-Gemäldes

Während der Israeli das Publikum herzlich umarmt, hält die Kanadierin Marie Chouinard es auf Distanz, wobei ihre kreative Wucht nicht minder fasziniert. „Soft virtuosity, still humid, on the edge“ heißt die am Freitagabend präsentierte, von „Colours“ koproduzierte Uraufführung, mit der die Sechzigjährige mit ihrer Kompanie aus Montréal das neue Stuttgarter Tanzfestival veredelt – und ihm die überregionale Aufmerksamkeit beschert, die sich die Veranstalter wünschen.

Choreografie, Bühnenbild, Kostüme, Videokunst – alles wird zu einem vom Chouinard-Atem durchdrungenen Œuvre zusammengeführt. Eines, das im Falle von „Soft virtuosity . . .“ weniger betört als verstört: Hinkende Krüppel, schreiende Kreaturen, vermummte Schreckensgestalten bevölkern die Bühne; mit aufgerissenen Mündern, geweiteten Augen, heraushängenden Zungen fließt der Tanz sogar durch die Gesichter. Zu der stellenweise die Schmerzgrenze überschreitenden elektronischen Klangkulisse des Komponisten Louis Dufort setzt die Choreografin Videokameras ein, projiziert Nahaufnahmen der zehn Tänzer auf eine Leinwand und vervielfältigt sie. Immer wieder kontrastiert sie rasende Hysterie mit maximaler Langsamkeit, dehnt Bewegung und Mimik ins Unendliche – ihre Emotions- und Existenzanalyse erinnert in ihrer visuellen Kraft an ein Renaissance-Gemälde. Chouinard findet für dieses ins Religiöse hinausgreifende Werk ein tröstliches Ende, wenn am Schluss eine nur in Tüll gehüllte Tänzerin sich verausgabt und Engelsflügel über die Bühne getragen werden.

Weihevoller Respekt

Im zweiten Chouinard-Stück „Henri Michaux: Mouvements“ peitscht aggressiver Industrial-Metal-Sound, auch von Dufort, die schwarz gewandeten Tänzer von einer Pose zur nächsten; solo oder in Gruppen imitieren sie die hinter ihnen auf eine weiße Leinwand projizierten Tusche-Wesen, die der belgische Maler und Dichter im Drogenwahn geschaffen hat. Virtuos, wie Chouinard hier den menschlichen Körper als plastisches Material handhabt; furios, wie ihre Kompanie sich in die rauschhafte Obsession der Bewegung hineinsteigert.

Das Publikum zollt diesem befremdenden Tanzkosmos weihevollen Respekt – mit warmherziger Begeisterung feiert es am Samstagabend das, was die französische Compagnie Käfig auf die Bühne zaubert. In „Yo Gee Ti“ vereint der algerischstämmige Choreograf Mourad Merzouki Hip-Hop, die zeitgenössische Variation taiwanesischer Tanzkunst und Textildesign zu einem Kunstwerk, dessen Ästhetik fraglos jeden in den Bann zieht. Deren Komponenten: zum einen die Breakdance-Athletik, der die Tänzer eine erstaunliche Poesie abringen, zum anderen die textilen Requisiten des Modeschöpfers Johan Ku. Merzouki versteht es, auch mit Hilfe einer raffinierten Lichtregie, Kus Strick-Lianen, grob gewirkte Filzhüllen und fließende Seidenfransen-Vorhänge organisch mit seiner vielschichtig-sinnlichen Choreografie zu verweben. Gern geben die Tänzerinnen und Tänzer eine artistische Zugabe – der Hunger auf Tanz dürfte nach dem ersten Festivalwochenende erst so richtig geweckt sein.