"My Heart“, ein Album mit alten Aufnahmen der heute 87-jährigen Doris Day, wird gerade ein Hit. Ist Kuscheln angesagt?  

Stuttgart - Sie selbst wird das alles am wenigsten wundern. Doris Day ist gläubige Christin. Darum dürfte die 1924 als Doris Mary Anne von Kappelhoff in einem Vorort von Cincinnati Geborene nur demütig erfreut zur Kenntnis nehmen, dass sie mit 87 Jahren eine der meistbeachteten CDs des Jahres in den Charts stehen hat, „My Heart“, eine Sammlung von Aufnahmen, die Mitte der Achtziger für eine TV-Show entstanden sind und danach lange im Archiv einstauben durften. Die engagierte Tierschützerin Day mag sich denken, Gott spiele wie üblich über Bande und gebe ihren Hilfsprojekten eine Chance, von neuen Fans entdeckt zu werden.

 

Uns anderen müsste dieser Erfolg Rätsel aufgeben. Nicht, dass er unverdient käme. Day ist zwar vor allem als Schauspielerin in Erinnerung geblieben, als patente Dauerjungfrau in angeblich substanzlosen Hollywood-Komödien wie „Bettgeflüster“, ein Image-Nachglühen, das einer frischen Sichtung ihrer Filme übrigens nicht standhält. Bevor sie aber je ein Filmstudio betrat, arbeitete Doris Day als Big-Band-Sängerin und wurde später die umsatzstarke Königin der kunstvollen Cocktailparty-Beschallung.

Kitsch und harmlose Klangtapete

Sie war früh eine kraftvoll swingende Interpretin und gewann eine große Natürlichkeit des Ausdrucks hinzu, eine erzählerische Qualität, gepaart mit wendiger Eleganz. Nur: alle ihre klassischen Aufnahmen sind lange schon lieferbar, auf Samplern, auf CD-Ausgaben ihrer klassischen LPs, gar in massiven Komplettboxen beim Liebhaber-Label Bear Family. Und doch schwärmen nun in allen Medien Edelfedern und Quasseltanten, als sei mit „My Heart“ das berückende Artefakt einer längst zeugnislos verloren geglaubten Epoche der Popkultur aufgetaucht.

Kein Zweifel, einige Titel der CD zeigen Day auf der Höhe ihrer Kunst. Wer sich erarbeiten kann, wie Day „My one and only Love“ vorträgt, hat alles gelernt, was sich über das Singen diesseits des klassischen Konzertsaals zu lernen lohnt. Aber etliches ist auch nur freundlicher Kitsch und harmlose Klangtapete. Dass „My Heart“ trotzdem so viele rührt und aufwühlt, wird also wohl mit Größerem als den Aufnahmen selbst zu tun haben, vielleicht gar mit einem Bewusstsein des Entschwindens.

Denn obwohl Days Musikwerk keineswegs verschwunden war, ja, obwohl heute mehr Aufnahmen von noch viel unbekannteren Interpretinnen des Great American Songbook lieferbar sind, als irgendein Musikgeschäft zu deren aktiven Zeiten vorhalten oder besorgen konnte – obwohl heute also alles zu bekommen ist, scheint diese Musik obskur geworden zu sein, ironische Easy-Listening-Moden in Großstadtclubs hin oder her. Der Popmarkt, aber auch ein Trendbewusstsein, das in Wirklichkeit Testfeld individueller Anpassungsfähigkeit im sozialen Strukturwandel ist, fordern den steten Blick nach vorne, der nur möglich ist, wenn ein kleiner Kanon Golden Oldies überschaubar bleibt und nicht zuviel Aufmerksamkeit erfordert. CDs wie „My Heart“ reißen plötzlich eine historische Perspektive auf, sie verschaffen ein Bewusstsein dessen, was schon alles da war, nicht als intellektuelle Übung, sondern als emotionale Erfahrung.

Das Seltsame ist nur, dass auch diese an sich subversive Erfahrung des Unmodischen so leicht und schnell zur Mode wird. Vor zwei Jahren wurde die britische Sängerin Vera Lynn, Jahrgang 1917, wiederentdeckt, dieses Jahr wird nun Days Musik das Kuschelkissen zwischen Rap und Rock. Aber es gibt wohl auch niemanden mehr, der wie Day mit naiver Überzeugung trösten könnte: „Life is just a Bowl of Cherries“.