Kann ein Comic auch eine differenzierte Studie zur Psychologie der Mitläufer sein? „Irmina“ bringt das fertig. Wir erleben eine junge Frau, die ganz und gar kein Nazi ist, aber sich doch einrichtet im System des Schreckens. Auch das jedoch hat seinen Preis.

Stuttgart - Niemand im heutigen Deutschland, abgesehen von ein paar moralisch Tollwütigen, verteidigt Adolf Hitler oder Heinrich Himmler. Es gehört zum Grundkonsens der Republik, dass diese Männer Großverbrecher waren. Ganz anders wird die Stimmung, wenn man über die braune Elite hinausblickt.

 

Sobald man auf die Schuld der einfachen Leute zu sprechen kommt, auf das Mitwisser- und Mittätertum der Biederen im Dritten Reich, regen sich Trotz, Empörung, Abwehrreflexe. Barbara Yelins „Irmina“ (Reprodukt Verlag, 288 Seiten, 39 Euro) eine der besten Graphic Novels der letzten Jahre, führt mitten hinein in diese Streit- und Bestreitungszone.

Wenn andere über Hitler schimpfen

Die 1977 in München Geborene erzählt von einer Frau, die sich anfangs prächtig zur Heldin einer Es-ging-auch-anders-Geschichte eignen würde. Irmina siedelt 1934 als Neunzehnjährige auf Zeit nach England über. Sie ist keine Emigrantin, sie will in London eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin machen, um anderen voraus zu sein. Bei einer Party lernt sie Howard Green kennen, einen dunkelhäutigen Oxfordstudenten aus Barbados, und verliebt sich in ihn. Zuhause in Deutschland würde man das Rassenschande nennen, aber auch in England birgt das damals Skandalpotenzial.

Nur dass Yelin aus Irmina keine Verkörperung heutiger Haltungswünsche macht. Mit meisterlicher Untertreibung und ausgeprägtem Gespür für das Unspektakuläre der erst nachträglich als entscheidend erkannten Momente des Lebens schildert sie die Widersprüche und Lauheiten ihrer Figur. Irmina ist kein Nazi, aber sie ärgert sich, wenn Ausländer über Hitler-Deutschland schimpfen. Sie stößt sich an den Zurücksetzungen, denen sich Howard, der „Darkie“, in England ausgesetzt findet. Aber kein Denkkontakt schließt sich in ihrem Kopf zu Rassenwahn und Ausgrenzungsschikanen in Deutschland.

Zwischen Herz und Systemtreue

Und so kehrt Irmina im Mittelteil des dreigegliederten Comics heim ins Reich. Dass sie das Versprechen, zu Howard zurückzukommen, nicht hält, liegt zunächst an Äußerem: Es fehlt schlicht das Geld. Kleine Alltagshürden hindern das Herz am großen Sprung. Bis dahin fühlen wir mit der nun im Kriegsministerium in Berlin tätigen, dort nicht glücklichen, aber doch auf ihre Karriere bedachten Irmina.

Aber wie sie dann dem Werben eines smarten jungen Architekten und SS-Angehörigen namens Gregor Meinrich nachgibt, wie sie sich einrichtet im Hausfrauendasein und in der Erwartung, die Belohnungen für Systemtreue würden auch ihrer Familie zugutekommen, das befremdet. Yelin bekommt das hin, ohne ihre Figur zu karikieren, zu entblößen, zu denunzieren.

Wenn der Mob zu plündern beginnt

Die Autorin und Zeichnerin hat die Idee zu „Irmina“ aus der eigenen Familiengeschichte gezogen, aus den Briefen und Tagebüchern ihrer Großmutter, sich aber Freiheiten genommen: Dies ist keine Biografie. Trotzdem geht Yelin nicht nur mit der Opportunistin, Verdrängerin und Profit-Erhofferin Irmina sorgsam um. Sie weigert sich auch, Nazipopanze über ihre Bühne poltern zu lassen. Meinrichs schneidigem Schwärmen von der neuen Zeit lässt sie das mitreißend Selbstbewusste.

Mit dem Begriff Fairness hat sie in diesem Zusammenhang allerdings Schwierigkeiten: „Dieses Wort finde ich sehr unpassend. Ich habe mich, und das war sehr belastend, eingelesen in den Ton von damals, in die Argumentationen und Denkweisen. Auch wenn ich absurd finde, was Meinrich sagt, lasse ich seinen Dialogen ihren Raum, um die Handlung authentisch zu erzählen. Darum geht es ja in der ganzen Geschichte: um das Erkunden, wie und warum jemand wie Irmina mitgemacht und nicht Nein gesagt hat.“

Es gibt keinen Treueschwur, aber auch keine Umkehrmomente in dieser Schilderung eines Sichverstrickens. Die Bilder aber werden beklemmender, aus dem Grau der deutschen Umnachtung sticht das Blutrot der Naziflagge bedrohlich hervor. Irmina zieht ihren Sohn vorbei an einem Mob, der jüdische Geschäfte plündert, sie will da in nichts hineingeraten. Aber sie erklärt ihrem Kind zugleich: „Die Juden sind unser Unglück.“ Yelin macht solche Transferleistungen des Schuldbewusstseins erhellend deutlich.

Von Stuttgart nach Barbados

Im dritten Teil des grafischen Romans springen wir aus der Düsternis der Kriegszeit in Irminas Lebensherbst in den Achtzigerjahren. Die Schulsekretärin reist aus Stuttgart, wo sie ein bescheidenes Leben führt, endlich nach Barbados, auf Howards Einladung hin. Sie prallt schmerzlich auf die falsche Erwartung von Howards Familie, eine bislang nur aus Erzählungen bekannte, sehr mutige und außergewöhnliche Frau kennen zu lernen.

Yelin legt ihr keine großen Rechtfertigungen in den Mund, verlässt sich noch stärker als zuvor auf die Bilder. „Ich nähere mich meinen Figuren nicht über den Text“, sagt sie, „ich komme vom Zeichnerischen. Ich entwickle sie aus den Skizzen heraus. Ich muss zunächst entdecken, wie sie aussehen, sich kleiden und sich geben.“

Dieser Ansatz hilft ihr wohl überflüssige Worte zu vermeiden, obwohl sie ein komplexes Bündel Psychologie und Gesellschaftskunde schnürt. Dessen Inhalt fächert der Historiker Alexander Korb in einem klugen Nachwort auf. Korb hat Yelin während der Arbeit an „Irmina“ beraten und kommt am Dienstag zum Gespräch in die Stadtbibliothek: einen spannenderen Literaturabend wird man so bald nicht finden.

Termin:
Stadtbibliothek, Mailänder Platz 1, Dienstag, 10. Februar, 20 Uhr.