Comicmeister Guy Delisle kommt in die Stadtbibliothek An die Heizung gekettet

Mit großartigen Reportagecomics aus Nordkorea, China, Israel und Myanmar ist Guy Delisle auch in Deutschland bekannt geworden. Nun kommt der Frankokanadier in die Stadtbibliothek am Mailänder Platz. Sein neues Werk „Geisel“ erzählt von einem Kidnapping in Tschetschenien.
Stuttgart - 111 Tage lang war der Franzose Christophe André, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, 1997 in Tschetschenien in der Gewalt von Geiselnehmern. Deren Ziele, Absichten und Forderungen kannte er nicht, ihre Sprache verstand er so wenig wie sie offensichtlich die seine. Die meiste Zeit lag er angekettet an einen Heizkörper auf einer Matratze in einem kahlen Raum, dessen einziges Fenster mit Brettern vernagelt war.
Wie hält ein Mensch das aus? Die Frage ist interessant, aber dass die Antwort in Gestalt eines Comics – eines umfangreichen Comics – kommt, erstaunt besonders. Ist nicht Teil der Gefangenenqual, dass es nichts zu sehen gibt, dass nichts passiert, dass man sich nicht bewegen und keine Gespräche führen kann? Dass eine große, gar nicht bildgerechte Leere entsteht, in die man die Angst nicht kriechen lassen darf, das nächste, was geschehen werde, sei die eigene Ermordung?
Kampf gegen die Ödnis
Der frankokanadische Comic-Künstler Guy Delisle hat Christophe André ausführlich zu der schrecklichen Episode befragt und weicht ihm mit den Bildern in „Geisel“ (Reprodukt-Verlag) nicht von der Seite. So lange André eingesperrt bleibt, bleibt es auch unser Blick. Trotzdem ist diese über 400 Seiten starke Bilderzählung, die Delisle am 20. März um 20 Uhr in der Stadtbibliothek am Mailänder Platz vorstellt, nie langweilig oder monoton. Sie bringt das seltene Kunststück fertig, von Langeweile und Monotonie spannend zu erzählen. Die mit vielen kleinen Variationen arbeitende Wiederholung der Motive, Blickwinkel und Situationen (das Essen wird gebracht; André darf hinaus zum Toilettengang; von draußen kommt unerklärliches Wummern und Hämmern) macht klar: hier kämpft einer gegen die Ödnis und Leere um seine Hoffnung, seinen Verstand, sein Ich.
Guy Delisle, am 19. Januar 1966 in Quebec geboren, ist ein Meister des Reportagecomics, jener Form, die sich Comicverächter gar nicht vorstellen können. Was haben, fragen die sich, Strichmännchen und komplexe Realität miteinander zu tun? Die spezielle Antwort im Werk von Delisle lautet: auf Zeichnungen wird die Welt klarer erkennbar als auf Fotos oder Filmbildern. Der Kanadier war schon in China, Nordkorea, Myanmar und Israel, manchmal eigener Jobs wegen, oft auch als Begleiter seiner Ehefrau, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitet. Wer Delisles nie besserwisserische, nie inquisitorische Comics liest, versteht die Welt besser.
Umgang mit der Freiheit
Delisles Alter Egos auf den Comicseiten sind bereit, sich auf die fremden Gesellschaften einzulassen. Sie sind bereit, die scheiternden Bemühungen zunächst immer auch als eigene Schuld zu sehen. Gerade darum wird dann etwa in „Pjöngjang“ (auf Deutsch beim Reprodukt-Verlag erschienen) schnell klar, ob und wie die andere Gesellschaft mit dem Fremden, dem Andersartigen, dem nicht im Gleichschritt Befindlichen umgehen kann. Delisles Nordkorea-Comic ist eigentlich viel erschreckender als die üblichen Raketendrohungen Kim Jong-uns.
„Geisel“, ein biografischer, kein autobiografischer Comic, erzählt einerseits die dramatischste Geschichte im Werk von Delilse: die Todesgefahr ist sehr konkret. Andererseits kommem die Themen der Wiederholung, der kaum verstreichenden Zeit, des Abgeschnittenseins vom eigentlichen Leben auch in anderen Comics dieses großen Erzählers vor. Sie werden diesmal aber konsequent in den Mittelpunkt gerückt. Wie André ohne Selbstbestimmungsrecht in seinem Elend liegt, das stellt natürlich immer auch an die Leser die Frage, wie sie mit ihrer relativen Freiheit umgehen. Ob sie zum Beispiel die Chance nutzen, einen so interessanten Gast wie Guy Delisle in der Stadtbibliothek zu treffen.
Termin: 20. März 2017, 20 Uhr, Stadtbibliothek am Mailänder Platz.
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