Bravo Hits ist die erfolgreichste deutsche Compilation-Reihe. Am Freitag kommt die 100. Ausgabe in den Handel – es wird nicht die letzte sein. Wer kauft so etwas überhaupt noch?

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Falls es jemand nicht mitbekommen haben sollte:Die Bravo Hits gibt es immer noch. Am 16. Februar kommt die 100. Ausgabe der Reihe mit den aktuellsten Popmusik-Hits in die Läden. Sie wird auf Platz eins der Compilation-Charts landen und dort viele Wochen lang verweilen. Wie fast alle Folgen in den vergangenen 25 Jahren.

 

Dass es die Reihe immer noch gibt, ist für den Bauer-Verlag per se ein Erfolg. Noch erstaunlicher: ihr Ende scheint nicht absehbar. Die Bravo Hits einzustellen, wäre „in etwa so, als würde man Bayern München aus der Fußball-Bundesliga werfen“. Das sagt Thorsten Tutzeck von Sony, der schon an der Compilation mitgewirkt hat, als Künstler wie Panjabi MC (mit „Mundian To Bach Ke“) und Avril Lavigne (mit „Sk8er Boi“) es aufs Plattencover schafften. Das war bei der Bravo Hits 40, im Februar 2003.

Damals befand sich die Musikbranche im digitalen Umbruch: CD-Verkäufe brachen ein, Downloads galten als große Hoffnung, und das Branchenblatt „Musikwoche“ fragte den Bravo-Hits-Erfinder Thomas Schenk, ob es die Bravo Hits 2013 immer noch geben werde. Schenk gab die folgende wunderbare Antwort: „Ja, davon bin ich überzeugt – in welcher Form auch immer: als Download, Telefon-Chip oder als Spezial-Auflage als CD für Sammler.“

Wer entscheidet über die Songs?

Die Geschichte gab ihm Recht – nicht mit dem Telefon-Chip, aber mit den Bravo Hits. Deshalb sollte, wer den Erfolg der Reihe verstehen will, mit Thomas Schenk (damals bei Warner) und Thorsten Tutzeck (bis heute bei Sony) reden. Dass bei Bravo Hits in einer hierzulande einzigartigen Kooperation aller drei Majorlabels auch Universal mit am Tisch sitzt, sei nur am Rande erwähnt. Interessanter ist, dass es bei der Reihe laut Thomas Schenk schon sehr früh darum ging, dass sie „umso wertvoller wird, je länger sie auf dem Markt ist“ – gemeint ist das Vierteljahr bis zur nächsten Ausgabe. Jedenfalls war die Bravo Hits schon immer eine Wette auf den Erfolg der auf der aktuellsten Doppel-CD vertretenen Songs.

Welche Titel schaffen es auf die Bravo Hits und wer entscheidet darüber? Thomas Schenk schmunzelt. „Da saßen immer mehrere Labelvertreter an einem großen Tisch und es ging zu wie auf einem türkischen Basar“. Die Bravo Hits ist traditionell eine Sache der großen Labels – die ihre Künstler prominent platzieren wollen. Man habe sich angesehen, wie viele Hits ein Künstler schon hatte, für welche Songs oder Alben wie viel Werbebudget eingeplant war, wie oft ein Lied im Radio lief. „Wenn man in dieser Branche arbeitet, ist es ein bisschen wie Buchhaltung“, sagt Thomas Schenk, „du hast deine Komponenten und kannst erahnen, welche Songs ein Hit werden.“ Was auch zeigt, wie stark Industrie und Rundfunk steuern, was die breite Masse hört.

Hat man Bausas Hit verschlafen?

2004 stieg Schenk bei Warner aus. Damals waren soziale Medien wie Facebook und Streamingdienste der Sorte Spotify, die heute den zweiten großen digitalen Umbruch in der Musikbranche binnen weniger Jahre antreiben, noch nicht einmal erfunden. Sie liefern Unmengen von Daten, mit denen die Hit-Vorhersage aber nicht zwingend leichter wird. Das gibt auch Thorsten Tutzeck zu, der aktuell an der Zusammenstellung der Bravo Hits mitwirkt.

Hat man für die Bravo Hits 99 (erschienen am 6. Oktober) also beispielsweise Bausas Hit „Was du Liebe nennst“ übersehen, der seit seiner Veröffentlichung im Oktober die Charts stürmte und zum Spotify-Rekordhalter avancierte? Tutzeck schüttelt den Kopf. „Das war uns schon bekannt, aber es ist eben auch eine Frage des Timings.“ Tatsächlich prahlte sogar der Künstler selbst damit, wie viel Geld das Label Warner für die Werbung zu seinem Song ausgab. „Aber er war schlicht noch nicht veröffentlicht, als wir die Bravo Hits 99 konzipiert haben“, sagt Thorsten Tutzeck. Auf der Nummer 100 ist „Was du Liebe nennst“ dann vertreten.

Bravo Hits trotz Spotify

Warum aber haben die Bravo Hits und andere Reihen wie Kuschel Rock oder Club Sounds die Streamingdienste bis jetzt überlebt? Oder anders gefragt: Wer kauft in Zeiten nahezu unbegrenzter und sofortiger Verfügbarkeit beinahe aller jemals veröffentlichter Popsongs überhaupt noch Doppel-CDs, auf denen rund 40 Lieder versammelt sind - die man überdies dauernd im Radio hört?

Die Marktforschung zeige, so Thorsten Tutzeck, dass die Mehrzahl der Compilation-Käufer einer Reihe treu bleibe: einmal Bravo Hits, immer Bravo Hits. „Das sind Leute, denen 40 Millionen Songs auf Spotify einfach zu viel Auswahl sind. Die einen Hit gerne hören, aber vielleicht nicht den Namen des Künstlers dazu haben. Für die sind die Bravo Hits ein Leuchtturm, eine Orientierung“, so Tutzeck, „sie kriegen, was gerade angesagt ist.“ Solche Käufer finden CDs auch nicht zwingend unattraktiv. Und dann gibt es noch eine zweite Zielgruppe: die Jugendlichen, die Bravo lesen und Bravo Hits hören. „Die DNA der Marke Bravo ist von den Bravo Hits ein bisschen entkoppelt“, sagt Thorsten Tutzeck. Will heißen: die großen Hits sind mittlerweile weitgehend unabhängig vom Lebensalter, man wächst da nicht mehr automatisch raus.

Die Umsätze sinken deutlich

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Zeiten vorbei sind, in denen eine einzige Ausgabe fast zwei Millionen Mal verkauft wurde – den Rekord hält die Bravo Hits 26 aus dem Sommer 1999. Heute werden im Jahr noch etwa eine Million Einheiten abgesetzt, einschließlich der „Best of“-Ausgabe zum Jahresende. Auch der Anteil der Hit-Zusammenstellungen an den Veröffentlichungen insgesamt sowie die Umsätze sinken seit Jahren, liegen mit knapp 100 Millionen Euro im Jahr aber immer noch weit über dem, was alle Veröffentlichungen mit klassischer Musik zusammen erzielen, wie der Bundesverband Musikindustrie ermittelt hat. Im vergangenen Jahr hat zudem der Erfolg der Compilation zur vierten Staffel der Fernsehsendung „Sing meinen Song“ gezeigt, dass es auch vergleichsweise junge Reihen auf Platz eins der Albumcharts schaffen können. Klassiker wie die Bravo Hits oder Kuschel Rock verkaufen sich zudem vorhersagbar und ohne größeres Risiko für die Labels – schon das ist ein Grund, warum es sie immer noch gibt.

Es wäre ungerecht, bei einer Betrachtung des Formats „Compilation“ nur die Großen in den Blick zu nehmen. Jenseits der immer noch sechsstelligen Verkaufszahlen tun sich immer wieder kleine Labels mit besonderen, teils extrem eng fokussierten Zusammenstellungen hervor. Da wäre etwa Trikont aus München zu nennen, das zuletzt Jodelklassiker oder äthiopische Funkmusik auf Compilations zusammengefasst hat – oder das Label Soul Jazz Records aus London, das tief in der Musikgeschichte wühlt und No-Wave-Songs der New Yorker Undergroundszene in den späten Siebzigerjahren ebenso präsentiert wie einen Querschnitt aus den im Wortsinn verschütteten Archiven des somalischen Rundfunks. Zumeist liegt solchen Veröffentlichungen ein opulentes Begleitheft bei, das zumindest einen Teil des für solche Zusammenstellungen nötigen musikhistorischen Wissens an den Käufer weitergibt.

Auf die Booklets ist man besonders stolz

So etwas können und müssen Hitsammlungen wie die Bravo Hits natürlich nicht leisten. Trotzdem sind die beteiligten Labels wie auch der Bauer-Verlag, in dem die Bravo erscheint, stolz auf die Cover und die Booklets. Die gehen über obligatorische Angaben zu den Urhebern oft weit hinaus und thematisieren immer wieder die Popkultur der jeweiligen Zeit. So geht es bei der Bravo Hits 99 um die heute dank WhatsApp und anderer Nachrichtendienste allgegenwärtigen Emojis. Interessanterweise erklärte auch schon die Bravo Hits 11, erschienen 1995, was ein :) eigentlich ausdrückt. Außerdem gab es Covers im Stile von Polaroidfotos (89), mit „Spiderman“ drauf (9 und 56), oder zum Snowboard-Trend (32). Die Bravo Hits 19 zeigte Fotoautomaten-Bilder durchweg jugendlicher Hörer, anderen Ausgaben wurden Autogrammkarten, Kinogutscheine oder Computerspiele beigelegt. Das macht die Reihe auch zu einer Art Archiv der Mainstream-Popkultur – und der zahlreichen One-Hit-Wonder, die es natürlich auch auf die jeweils aktuelle Ausgabe geschafft haben.

„Das war immer harte Arbeit, zu schauen, was Nummer eins werden kann“, erinnert sich Thomas Schenk an seine Zeit mit den Bravo Hits. Hinzu kamen plötzlich nach oben schnellende Lizenzierungskosten und Unverständnis insbesondere bei den internationalen Labels – der Erfolg der Hit-Compilations ist nicht zuletzt ein Phänomen des deutschsprachigen Raums. Anderswo hatte die Industrie Angst, dass solche Veröffentlichungen die Verkaufszahlen des inzwischen untergegangenen Single-Formats oder der Alben drücken würden. Zu Unrecht, ist Schenk überzeugt.

Der Erfinder der Bravo Hits ist übrigens seit 2014 Rentner. Mit der Reihe setze er sich heute nicht mehr besonders intensiv auseinander, bekennt Schenk. Er kriegt aber immer noch die neuesten Ausgaben zugeschickt – und macht dann, was so viele damit tun: sie anhören, um informiert zu sein, was im Mainstream-Pop gerade angesagt ist.