Jeden Tag kurz vor 19 Uhr kann man in einem Waiblinger Wohngebiet Menschen beobachten, die sich, mit Notenblättern und Campinghockern ausgerüstet, zum Singen auf der Straße treffen. Ein Besuch.

Waiblingen - Jeden Abend, kurz vor 19 Uhr, kommt Leben in den sonst eher ruhigen Straßenabschnitt zwischen Thomas-Mann- und Heinrich-Heine-Straße in Waiblingen. Dann sind dort Menschen mit Notenblättern unterwegs, ein betagter Herr trägt einen zusammengeklappten Camping-Stuhl, ein anderer hat einen Holzschemel dabei. Eine Dame kommt mit dem Fahrrad und ein Senior, der am Rollator geht, mit seiner Betreuerin, regelmäßig. Auch die kleine Christine, noch keine zwei Jahre alt, ist mit ihren Eltern und der Großmutter immer dabei, wenn pünktlich um 19 Uhr das gemeinsame Singen beginnt. Eine Siebenjährige hält dabei ihren großen Plüschbär fest im Arm.

 

Nur am ersten Abend war Solo-Singen angesagt

Seit Mitte März geht das nun schon so – ohne Unterbrechung, werktags und an den Wochenenden. Am Anfang war es eine Handvoll Leute, mittlerweile zuweilen zwei Dutzend. Ideengeberin war die Theologin Margot Käßmann, unbewusst. Viele kennen sie aus ihrer Zeit als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche. Käßmann hatte am Anfang der Corona-Pandemie zum „Balkonsingen“ aufgerufen. Sie hatte in den Medien verfolgt, wie sich Italiener in der kompletten Ausgangssperre auf Balkonen versammelt und gemeinsam, über die Straße hinweg, gesungen hatten, zum Beispiel „Va pensiero“ aus der Verdi-Oper Nabucco. Käßmann hatte das so beeindruckt, dass sie einlud, fortan jeden Abend quer durch Deutschland „Der Mond ist aufgegangen“ zu singen.

Davon hörte Martina Urban in Waiblingen – und zögerte nicht lange. Sie stellte sich am 18. März um 19 Uhr ans Fenster ihrer Wohnung und sang vom Mond, der aufgeht. Am ersten Abend ganz alleine, und mit gemischten Gefühlen. „Was werden wohl die Nachbarn denken?“ Am zweiten Abend hatte sie schon Mitsänger aus der Nachbarschaft, bald wurde ein kleiner Corona-Chor daraus. Sie dirigierte vom Fenster und die Menschen standen vor ihrem Haus auf dem Gehweg. Zu den Sangesfreudigen kamen nach und nach andere dazu, ein Ehepaar, zwei Freundinnen aus der Kernstadt und eine Tochter mit ihrer betagten Mutter.

Beim „Corona-Chörle“ darf man auch mal falsch singen

Von Anfang an dabei war auch Gerhard aus Winnenden, der jeden Abend eigens nach Waiblingen kommt. Seine Frau sitzt seit drei Monaten aufgrund von Corona in Indien fest. Einige kannten sich schon vorher, aus der Waiblinger Kantorei und dem Kleinen Chor, wo sie unter dem Kirchenmusik-Direktor Immanuel Rößler singen. Andere singen gerne, „aber so falsch, dass mich kein Chor nimmt“, wie eine Mitsängerin schmunzelnd bedauert und sich deshalb umso mehr freut, dass der „Cornona-Chor“ sie „duldet“. Dirigentin Martina Urban ist auch „vorbelastet“, sie leitet seit gut 20 Jahren den Schlosschor der Diakonie Stetten.

Sie gibt die Lieder vor, allerdings in Abstimmung mit den Mitsängern. Jeder von ihnen hat mittlerweile seinen angestammten Platz: auf dem Gehweg, am Gartentörle, auf der Haustreppe. Die Stimmlagen – erstaunlich viele helle Soprane und warme Tenöre – stehen auf Distanz und doch zusammen. „Jetzt ist Kanon-Zeit“, kündigt Martina Urban an, führt die Stimmgabel zum Ohr und stimmt „Abendstille“ an. Vierstimmig. Das Spektrum der Lieder ist groß, Kinderlieder, aber auch Melodien aus dem Gotteslob gehören dazu. Im Mai wurden auch Maien-Lieder gesungen.

Nie fehlen darf der Kanon „Oh wie wohl ist mir am Abend“ mit seinem Refrain „bim bam“. Denn am Ende ruft Martinas Ehemann immer ein lautes „bim bam“ vom Balkon und löst damit Heiterkeit aus. Kurz darauf setzt das Geläut der Waiblinger Kirchenglocken ein. Meistens schafft es der Corona-Chor, dessen Zusammensetzung jeden Abend etwas anders ist, genau diesen Moment zu erwischen. Unabhängig davon endet jedoch jedes abendliche Konzert mit dem Halleluja und Laudate.

Ritual zum Schluss ist der „Bi-Ba-Butzemann“

Die Auswahl der Lieder geht zum Teil darauf zurück, was Immanuel Rößler als Repertoire mit den Sängern einstudiert hat, „als wir noch Chorproben hatten“, bedauert eine Sängerin, die Probleme mit dem Laufen hat und sich doch jeden Abend auf den Weg macht. Martina Urban greift auf diese Kenntnisse zurück und leitet die anderen an. Denn die Laien-Sänger wollen nicht vor sich hinträllern, sondern streben nach Perfektion. Die meisten können den Text auswendig, andere singen aus dem Gesangbuch, wie die an Demenz erkrankte Maria, welcher die Nachbarin die Seite aufschlägt.

Es ist ein wohlklingendes, harmonisches Miteinander. Manchmal bleiben Menschen stehen, hören zu oder summen spontan mit. Für die kleine Christine wird jeden Abend der „Bi-Ba-Butzemann“ angestimmt, dann strahlt sie und tanzt ganz schüchtern mit. Mittlerweile gibt es Lieblingslieder und auch eine feste Abfolge, in der die Melodien gesungen werden.

Es klingt wunderschön, wenn zwischen Birken, die am Rand des nahen Spielplatzes stehen, Pfingstrosen im Vorgarten und parkenden Autos das Halleluja erklingt. Eine ältere Dame, die schon viele Jahre in einem Chor singt, meint nach dem letzten Akkord: „Singen tut halt der Seele gut“ – und eine andere erwidert: „Also dann, bis morgen Abend.“

Ans Aufhören denkt derzeit keiner aus dem Corona-Chörle.