Unsäglich: Impfdurchbrüche in Pflegeheimen fordern viele Todesopfer. Trotzdem drückt sich die Talkrunde von Maybrit Illner um eine Impfpflicht für Pflegekräfte. Warum?

Stuttgart - Die Uhr der großen Koalition läuft ab, und bei der Talkrunde von Maybrit Illner am Donnerstagabend im ZDF war erkennbar, dass der CDU-Kanzleramtsminister Helge Braun und der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach keine koalitionären Rücksicht mehr nehmen müssen. Da ging es um das von den Ampel-Koalitionären ausgerufene Ende der epidemiologischen Notlage für Ende November, die nicht zur aktuellen vierten Welle passen mag, wie CDU-Mann Braun bemerkte: „Das ist ein vollkommen falsches Symbol. Das verkennt die Dringlichkeit der Situation.“ Lauterbach konterte, bisher sei die Corona-Politik ohne „preiswerte Parteipolitik“ ausgekommen und auch die Opposition habe sich stets zurückgenommen, man könne jetzt der „Ampel“ die Schuld geben: „Ich könnte aber auch sagen, der Jens Spahn hat uns unter Druck gesetzt. Ich sage es aber nicht“, so Lauterbach mit einem verschmitztem Lächeln.

 

Zwölf Tote in einem Pflegeheim

Das Hauptthema aber waren die zögerlichen Boosterimpfungen, die überraschenden Impfdurchbrüche bei Älteren und der skandalöse Ausbruch von Corona-Infektionen in Pflegeheimen – der in einer Einrichtung in Brandenburg zwölf Tote, in einer in Sachsen-Anhalt vier Todesopfer forderte. In beiden Fällen war von ungeimpftem Personal die Rede. Schaffen wir es wieder nicht, unsere hochbetagten Mitmenschen zu schützen und wie könne es bei Doppeltgeimpften zu solchen Impfdurchbrüchen kommen, fragte Moderatorin Maybrit Illner.

Impfschutz hält noch monatelang

Christine Falk, Präsidentin der Gesellschaft für Immunologie, sagte, dass die Impfstoffe eigentlich „extrem“ wirksam seien und die 145.000 Impfdurchbrüche bei 55 Millionen Geimpften – rund 0,26 Prozent – zeigten, dass die meisten doch gut geschützt seien. Es sei aber so, dass die Immunabwehr mit der Zeit nachlasse, wobei die Sechs-Monats-Frist für eine Drittimpfung nach der letzten Corona-Impfung kein immunologisches Datum sei. Der Impfschutz halte noch Monate länger, baue sich nur graduell ab. In der heiklen Frage nach einer Impfpflicht für Pflegekräfte wich Falk aus: das sei eine politische Frage.

Angst, dass die Pflegekräfte kündigen

Auch die anderen Studiogästen zeigten sich zwar empört, dass ein Großteil der Pflegenden nicht geimpft ist, das sei „schwierig auszuhalten“, so Andreas Gassen, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, aber es bestehe die Sorge, dass ein Großteil der Pflegekräfte bei einer Impfpflicht „gar nicht mehr zur Arbeit kommt“. Diese Befürchtung teilt auch Karl Lauterbach, der darauf hin wies, dass in den Krankenhäusern mehr als 90 Prozent der Mitarbeiter geimpft seien, das Problem sei in der Altenpflege und dort offenbar eher bei den Hilfskräften, er selbst befürworte „verbindliche und dokumentierte Testungen für jeden Mitarbeiter und Bewohner“. Helge Braun betonte, dass es „die große Bitte“ der Einrichtungen gegeben habe, auf keinen Fall eine Impflicht für Pflegekräfte zu erlassen – „sonst wird da ein Teil woanders arbeiten gehen oder in ihr Heimatland zurückkehren.“ An Personal aber mangelt es jetzt schon.

Ein CDU-Landrat fordert Mut

Allein der Heinsberger Landrat Stephan Pusch (CDU) verlangte, dass die Politik bei diesem Thema „mutiger“ sein müsse: „Wir können es doch nicht zulassen, dass Ungeimpfte in diesem Bereich weiterarbeiten!“ Überhaupt war Pusch der Studiogast, der sich ein konsequenteres Handeln des Staates in der gesamten Corona-Krise und einen Bundeskrisenstab zu ihrer Bewältigung gewünscht hätte – stattdessen habe man fehlendes Krisenmanagement und eine Kakofonie der Stimmen erlebt.

Hausärzte sollen „Gas geben“ beim Impfen

Die Vielzahl der Meinungen war auch beim Thema Drittimpfungen – dem Boostern – in der Talkrunde zu hören, die die Ständige Impfkommission für die über 70-Jährigen empfiehlt. Auf der einen Seite fanden sich da Braun und Lauterbach wieder zusammen, verlangten mehr Tempo: „Dass das Boostern so schleppend beginnt ist unmöglich. Es geht um gute Organisation. Die Hausärzte müssen Gas geben, wir haben keine Impfstoffknappheit mehr“, sagte Braun. Die Kritik war vermutlich auch auf die Länder gemünzt, und Karl Lauterbach drängelte ebenso. Wenn jetzt 30.000 Arztpraxen jede Woche 50 Impfungen vornehmen, dann sei man mit den avisierten 16 Millionen Impfungen für Ältere und vulnerable Gruppen in zehn bis zwölf Wochen fertig, so Lauterbach: „Da sind wir dann aber spät dran.“ Wo es gehe, da solle man Impfzentren pragmatisch auch wieder öffnen.

Boostern für alle? Der Ärztefunktionär ist skeptisch

Dass die Drittimpfungen eine Welle brechen können, das haben Erfahrungen aus Israel gezeigt. Ärztefunktionär Gassen befürwortet ein Einladungskonzept nach Berliner Vorbild, mit denen die Impflinge für das Boostern einbestellt werden, aber die Öffnung der Auffrischungsimpfungen jetzt sofort für alle – wie es die Gesundheitsminister derzeit auf ihrer Tagung in Lindau beschließen wollen – führt seiner Ansicht nach zu einer „Chaotisierung“, dringlicher sei erst einmal die Gruppe der „Vulnerablen“. Mehr noch treibt Gassen die große Gruppe der über 60-Jährigen um, die überhaupt noch nicht geimpft ist: „Der Druck auf die hat nichts gebracht. Wenn wir die nicht zum Impfen bringen, werden sie sich alle bis zum Frühjahr infiziert haben.“ Karl Lauterbach sieht das genauso: „Die drei Millionen Ungeimpften über 60, die gehen jetzt voll ins Risiko.“ Laut neusten Modellrechnungen könne die Inzidenz im Januar bis auf 400 steigen.

Empörung über schwache Kontrollen

Nur in Nebensätzen angesprochen wurde ein ganz anderer „Skandal“ – die mangelhafte Kontrolle von G-2 oder G-3-Regeln. Der Landrat Pusch kritisierte, dass er beim Restaurantbesuch in Berlin niemandem seinen Impfnachweis zeigen musste. Karl Lauterbach empfand das als einen „Riesenskandal“, es sei unakzeptabel, „wie lax mit unseren Regeln umgegangen wird“.