Der Chefarzt Andreas Ostermeier warnt davor, eine Infektion mit dem Coronavirus zu unterschätzen. Auch in seinen Intensivstationen in Böblingen und Herrenberg ist es zu schweren Krankheitsverläufen gekommen.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)

Böblingen - Andreas Ostermeier hat rund 300 an Covid-19 erkrankte Patienten behandelt. Der 55-jährige Chefarzt des Zentrums für Anästhesie und Intensivmedizin Böblingen-Herrenberg nennt die Krankheit tückisch.

 

Herr Ostermeier, wird unterschätzt, was es bedeutet, an Covid-19 zu erkranken?

Ein klares Ja: Es wird unterschätzt. Es gibt in allen Altersgruppe kritische Verläufe mit zum Teil langer Genesungszeit und einer langen bis eventuell dauerhaften Einschränkung der Lungenfunktion.

Welche Krankheitsverläufe haben Sie im Klinikverbund Südwest erlebt?

Alle. Erfreuliche, wenn Über-80-Jährige nach zwei bis drei Wochen Beatmung wieder nach Hause entlassen werden konnten. Aber auch alle Komplikationen wie Lungenembolien, Schlaganfälle oder Nierenversagen. Das Tückische an der Krankheit ist, dass Patienten innerhalb kürzester Zeit schwerst krank werden können und intensiv behandelt werden müssen. Innerhalb von ein, zwei Stunden sind sie plötzlich nicht mehr in der Lage, selbstständig zu atmen. Sie sind dann extrem geschwächt und in Todesangst. Was dazu kommt: Husten, Fieber, Herz-Kreislauf-Störungen oder Thrombosen. Ein großes Problem ist, wenn eine Überreaktion des Immunsystems auftritt. Das haben wir auch auf unseren Stationen erlebt.

Auch bei jüngeren Menschen?

Tatsächlich sind vor allem Senioren bei uns behandelt worden, wir hatten aber auch jüngere Patienten. Sogar Säuglinge, die mit dem Coronavirus infiziert waren, kamen ins Krankenhaus, zum Glück war der Verlauf bei allen unkritisch. Ein Jugendlicher war bei uns, der eine Herzmuskelentzündung davon getragen hat und nach mehreren Wochen noch immer beeinträchtigt ist. Und wir hatten einen Patienten Ende 30, der an eine Uniklinik verlegt wurde, weil sein Blut außerhalb des Körpers über das Lungenersatzverfahren mit Sauerstoff angereichert werden musste, so geschädigt war das Organ. Das sind Einzelfälle, aber es gibt sie.

Rechnen Sie mit einer zweiten Welle?

Eine seriöse Antwort kann man auf diese Frage nicht geben. Ich weiß es nicht, ich halte es für möglich. Das Ganze ist ein Puzzle. Und so lange es keine guten Medikamente und keine Impfung gibt, brauchen wir die Ressourcen des Gesundheitssystems. Wir sind gut aufgestellt, es darf jedoch nicht überstrapaziert werden. Das gesamte Klinikpersonal hat seit März eine erstaunliche Leistung vollbracht. Aber wir können nicht alle halbe Jahr solche Wellen abdecken. Es war extrem belastend.

Krankenstand im Kreis Böblingen

Im Kreis Böblingen wurden bis Ende Mai 1388 Menschen mit dem Coronavirus infiziert, 1247 sind wieder gesund. Aktuell gibt es 93 aktive Fälle. Im Kreis sind 48 Patienten an Covid-19 gestorben. Das Durchschnittsalter der in den Intensivstationen des Klinikverbunds Verstorbenen liegt bei 81 Jahren. Ende Mai waren im Klinikverbund Südwest (KVSW) noch zwei bestätigt positive Covid-19-Patienten in stationärer Behandlung, am Tag davor waren es noch drei gewesen. Das ist der niedrigste Stand seit 17. März, als es zu Beginn der Pandemie vier Patienten waren. Der Höchststand war am 3. April mit 103 Covid-19-Patienten gleichzeitig in den Isolierstationen und Intensivstationen der sechs Krankenhäuser. Hinzu kamen tageweise bis zu 40 Verdachtsfälle. Insgesamt wurden in den vergangene drei Monaten rund 700 mit dem Coronavirus infizierte Menschen im KVSW stationär versorgt.