Berlin ist der Nabel der zeitgenössischen Kunst. Tim Bengel will daheim im Süden „ein Gegengewicht zur dominanten Hauptstadt“ schaffen. Corona-gerecht hat der „Goldjunge des Kunstmarktes“ sein Studio Berkheim eröffnet – mit 150 Gästen in 14 Stunden.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Be happy, be pink! In der Mode wird Pink zur Trendfarbe des Jahres ausgerufen. Dabei kann Pink noch viel mehr. Pink, so wird behauptet, ist nicht nur die Kolorierung des Sommers 2020, sondern vor allem eines: eine Lebenseinstellung.

 

Am Örtchen des schwäbisch-globalen Künstlers Tim Bengel kann man sein Leben also wunderbar einstellen. Rosafarben leuchtet der Lokus zwischen Schüssel und Waschbecken. Wer denkt, der rosafarbene Schein der Toilettenlampe taucht sogar das Klopapier in Pink, der irrt. Dem 28-Jährigen gefällt es, die Illusion zu outen und damit seine Gäste zu verblüffen. Wer das von Deutschen gehamsterte Lieblingsgut in Coronazeit nach außen ans Tageslicht trägt, staunt: selbst Bengels Klopapier ist rosafarben. Echt!

Millionäre stehen neben Handwerkern

Ob Schein oder Sein – Kunst darf alles sein, gern auch gleichzeitig. Nun wäre es gewagt, sogar die Toilette des immer wieder überraschenden Tim Bengel, der im vergangenen Jahr bei einer Ausstellung in der Kreissparkasse seiner Heimatstadt Esslingen für Schlangen über mehrere Häuserblock gesorgt hat, zur Kunst zu erklären. Aber warum eigentlich nicht? Die Kunst des 28-Jährigen hat mit Spaß zu tun, mit Leichtigkeit, mit seinem Drang, das Gewohnte zu durchbrechen.

Berkheim befindet sich 17 Kilometer von Stuttgart entfernt auf der Gemarkung Esslingen. An diesem Ort mit über „800-jähriger Tradition und aktivem Vereinsleben“ (daran erinnert ein Schild am Straßenrand) hat Tim Bengel nun seine Zukunftsvisionen und sein klares Plädoyer für die Stärken der Heimat präsentiert. Bei der Eröffnung seines Studios Berkheim, das in einer ehemaligen Autowerkstatt Atelier, privates Wohnen und Showroom mit seiner Kunstsammlung verbindet (darüber hinaus gibt es in diesem Areal Start-ups), stehen Millionäre neben Handwerkern, ehemalige Fußballprofis wie Kevin Kuranyi und Timo Hildebrand neben Musikern wie Sänger Kwadi, Rapper Gimini und DJ Pierre Petrol, Stiftungsvorsitzende wie Nicolai Müller neben Jungwinzern wie Thomas Diehl. Und alle haben Spaß. „Wo gibt es sonst diese soziale Diversität?“ fragt der Hausherr.

Tim Bengel weiß, wie man die sozialen Medien rockt

Das Essen ist, dies versteht sich bei Tim Bengel von selbst, fleischlos. Es gibt Köstlichkeiten wie eine vegane Paella. Für den Gastgeber ist’s ein Marathon. In 14 Stunden empfängt er 150 Gäste. Um Corona-konform möglichst wenige Personen gleichzeitig in seiner Kunsthalle zu haben, vergab er verschiedene „Time-Slots“, wie er sagt, zwischen 12 und 20 Uhr. Die Gästeliste hat er bei 150 Personen abgeschlossen, sonst wäre der Andrang zu groß gewesen.

Für den Ausschank von veganen Getränken und Essen sorgen Mitglieder des jungen Künstlerkollektivs Plattform 11 (die Ziffer ist der Vorwahl 0711 entnommen). „Unsere Vision ist, Stuttgart auf der Landkarte der zeitgenössischen Kunst sichtbar zu machen“, erklärt Tim Bengel. Der 28-Jährige weiß, wie man soziale Medien rockt. Sponsoren gefällt das. Am 28. August eröffnet das Kollektiv, dem mittlerweile 35 Talente aus Süddeutschland angehören, im alten Hugo-Boss-Flagship-Store in Metzingen eine Ausstellung. Der Hauptsponsor Outletcity baut seinen Laden zu einer Galerie um.

„Wer könnte in 30 Jahren der nächste Basquiat sein?“

In Berlin hat Tim Bengel mit seiner Installation „Gräber unserer Generation“ einen Coup gelandet und stellt dort häufig aus. Dennoch kann er sich nicht vorstellen, für immer in die Hauptstadt zu ziehen. „Berkheim ist für mich Heimat“, sagt er, „darüber hinaus ein echt toller Standort mit viel Potenzial für die Kunst.“ Die Menschen in der gesamten Region seien „so smart“ und hätten „so einen Tatendrang“. Wenn man hier einen Zugang zur jungen Kunst schaffe, könne „Großes entstehen“. Auch die Wirtschaft unterstützt die jungen Künstler. Die Babbelrunde um Unternehmer Stephan Hewel und dem früheren Südwestbank-Chef Wolfgang Kuhn sind zur Preview ins Studio Berkheim gekommen und haben Geld mitgebracht für junge Kunsttalente.

500 Millionen Menschen haben Bengels Sandperformance im Netz gesehen. Den etablierten Kunstbetrieb hat der Junge mit dem Lockenkopf gehörig aufgemischt. Heute kosten seine Bilder bis zu 80 000 Euro. Und gleichzeitig sammelt er Bilder von Künstlerinnen und Künstler seiner Generation, die im Studio Berkheim nun ausgestellt sind. Vor jedem Kauf, sagt er, überlegt er: „Wer könnte in 30 Jahren der nächste Basquiat sein?“ Basquiat, Warhol und Meese sind seine Bezugsgrößen. Einen herausragenden Fußballer müsse man auch in jungen Jahren verpflichten, sagt der 28-Jährige. Später könne ein Verein sich ihn kaum leisten.

Bengel sprudelt vor Ideen. Eine Freude ist es, ihn reden zu hören. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Die Berliner werden schon sehen, wo die kreative Kraft sitzt – in der schwäbischen Provinz. Und wer ein Bedürfnis verspürt, kann bei ihm die Welt sogar durch die rosarote Klobrille betrachten.