Für Physiotherapeuten ist die aktuelle Lage besonders schwierig, weil sie zwar als systemrelevant gelten und geöffnet haben, aber viele Patienten aus Verunsicherung die Behandlung absagen.

Fellbach/Kernen - Steffen Günter, Physiotherapeut und Osteopath aus Rommelshausen, hat in der Corona-Krise mehr Zeit als sonst. „Das Ganze ist ein Dilemma. Wir zählen zu den systemrelevanten Berufen, aber die Menschen sorgen sich, dass sie sich bei uns anstecken.“ Die Folge seien leere Praxen und Patienten, von denen viele „mit Sicherheit gewaltig abbauen“.

 

50 bis 60 Prozent weniger als sonst hat sein Team derzeit zu tun

Günter nimmt es genau. Neben dem Empfang ist eine Vorrichtung aufgebaut: Ein Seifenspender mit Desinfektionsmittel und ein Schild mit der Aufforderung, zuerst mal einen kräftigen Schuss zu nehmen und die Hände einzureiben. Der Chef und seine Mitarbeiter tragen Handschuhe und Mundschutz. Nur drei Patienten sind in der Praxis. „Sonst ist es am Mittwochnachmittag viel voller“, sagt Günter.

50 bis 60 Prozent weniger als sonst hat sein Team derzeit zu tun. „Gerade wer regelmäßig Behandlung benötigt, gehört oft auch zur Risikogruppe – und scheut sich, zu kommen, oder uns ins Haus zu lassen“, sagt der Physiotherapeut. Das gilt gerade auch für chronisch kranke Patienten, bei denen es eigentlich darum geht, den Ist-Zustand zu erhalten. „Bei vielen Menschen entsteht jetzt eine Lücke, die wir kaum aufholen können.“ Die Angst vor Ansteckung verhindert nicht nur die notwendige Versorgung. Für viele langjährige Patienten sei der Besuch ein wichtiger Teil des Tagesprogramms. „Viele warten sonst immer schon auf uns. Die menschlichen Begegnungen, die Gespräche und die kleinen Gesten im Alltag, etwa was vom Schrank runter holen, all das fehlt auch“, erzählt Steffen Günter.

Doch die Verunsicherung gehe durch alle Altersschichten

Dass Gesundheitsminister Jens Spahn einen Rettungsschirm für die „Heilmittel-Erbringer“ ins Gespräch gebracht hat – geplant ist, dass Therapeuten 40 Prozent der Vergütung aus dem vierten Quartal 2019 als Einmalzuschuss erhalten – ist für den Physiotherapeuten eine gute Idee, zumal die Mitarbeiter so möglicherweise von Kurzarbeit verschont bleiben. „Uns beutelt ja, dass wir offen haben müssen, obwohl so viele Patienten absagen.“ Eine Absage hat Günter am Donnerstag auch vom Gesundheitsamt in Waiblingen kassiert, als er nach medizinischer Schutzausrüstung für sich und seine Leute nachgefragt hat: „Die freundliche Dame meinte, sie hätten bei Weitem nicht genug“.

Der Ergotherapeut Johannes Wielandt leidet unter der Pandemie: „Die Hälfte meiner Patienten läuft mir weg, alle sind verunsichert.“ Dass er nicht mehr in die Seniorenheime darf, kann Wielandt nachvollziehen, obwohl gerade dort Menschen mit hohem Betreuungsbedarf leben. Doch die Verunsicherung gehe durch alle Altersschichten. „Wir sollen Menschen medizinisch versorgen, aber die trauen sich erst gar nicht aus dem Haus, obwohl die Therapie für sie wichtig wäre.“ Wielandt denkt dabei an Schlaganfallpatienten, bei denen schnelles Handeln erforderlich ist, Menschen mit Schädel-Hirn-Trauma oder Krebspatienten, die ohnehin anfälliger sind. Bei ihm in der Praxis in Rommelshausen würden strenge Sicherheitsvorkehrungen beachtet, sagt Wielandt. Jeder Besucher bekomme einen Mundschutz. „Niemand muss sich um seine Gesundheit Sorgen machen.“

Nun steckten alle in der Zwickmühle

Die große Verunsicherung der Patienten spürt auch der Logopäde Olaf Stoll. „Dass in Bayern nach schwammigen Aussagen von Ministerpräsident Söder erst einmal alle Therapeuten schlossen, hat das noch befördert“, sagt er. Nun steckten alle in der Zwickmühle. Stoll hat Patienten, deren Lage sich durch jede fehlende Behandlung verschlechtert. Wie die „Schluckpatienten“, bei denen die Logopäden mit Eis und Vibration die Muskulatur von Zunge und Lippen steigern oder mit Massagen die sensorische Wahrnehmung fördern. „Nach einem Schlaganfall kann das entscheidend sein, um wieder normal essen zu können, weg von der Magensonde zu kommen“, erklärt Stoll. Nicht umsonst seien Krankenkassen der Meinung, dass Heilmittel-Erbringer systemrelevant sind. „Wir entlasten die Krankenhäuser, damit andere dort Platz finden.“

Die vom Gesundheitsminister angeregte Förderung hält der Logopäde aus Kernen für notwendig, rechnet allerdings mit Schwierigkeiten bei den Anträgen. „Bei uns ist es anders als bei Ärzten, die pro Behandlung abrechnen. Wie soll ich denn den exakten Umsatz vom vierten Quartal nachweisen, wenn auf einem Rezept beispielsweise 20 Behandlungen von Juli bis Dezember stehen?“, fragt er sich.

Auch Kurzarbeit trifft offenbar nicht jede Praxis

Allerdings gilt nicht für alle Patienten, dass sie aus Angst vor einer Ansteckung momentan einen großen Bogen um ihren Therapeuten machen. Gerade die Haus-besuche gelten für viele Menschen als willkommene Abwechslung im durch die Corona-Krise ereignislos empfundenen Alltag. Auf einem Balkon in Fellbach war dieser Tage etwa Sonja Friedmann zu sehen, die mit ihrer Patientin die Übungseinheit nutzte, um gleich Sonne und frische Luft zu tanken. „Den Patienten tun Übungen an der frischen Luft gleich noch mal so gut“, sagt die Physiotherapeutin.

Auch Kurzarbeit trifft offenbar nicht jede Praxis, mancher Betrieb scheint auch in der Krise noch gut ausgelastet „Einerseits sagen momentan viele und vor allem Risikopatienten ihre Termine ab“, sagt der Fellbacher Physiotherapeut Christopher Graf. Andererseits kämen Patienten beispielsweise nach einer Hüftoperation verstärkt in den ambulanten Bereich, weil sie in diesen Zeiten keine Reha antreten können. Im Stich gelassen fühlt sich Graf in puncto Schutzkleidung. „Wir haben uns Masken selbst genäht“, sagt er. Bei Behandlungen in manueller Therapie oder Lymphdrainage komme der Physiotherapeut seinem Patienten sehr nahe. Einen Mindestabstand einzuhalten sei nicht möglich, so Graf. Er versuche nun über einen Privatkontakt hochwertige Schutz-Masken in China zu bestellen.

Sicherer für Patienten und Physiotherapeuten sind Behandlungen per Video, die seit kurzem bei den Krankenkassen abgerechnet werden können. „Wir vereinbaren einen Termin mit dem Patienten und leiten ihn dann per Videokonferenz an, können ihn so auch korrigieren – allerdings nur verbal“, sagt Graf. Nur ein Teil der Patienten verfügt allerdings über die technischen Möglichkeiten.