„Die Sportler sind von einem Hochgeschwindigkeitszug abgesprungen“, sagt Sportwissenschaftler Jürgen Wick. Zwar stehe der neue Olympia-Termin, doch die Corona-Krise gefährdet den kompletten Hochleistungssport.

Leipzig - Video-Analysen und Leistungsdiagnostiken - fast alles ruht derzeit bei den Sportwissenschaftlern des Leipziger Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT). Die Forscher des deutschen Spitzen- und Nachwuchsleistungssports, die Athleten aus 21 Spitzenverbänden fast 220 Tage im Jahr auf Wettkämpfen begleiten, arbeiten in der Corona-Krise primär im Homeoffice und stehen mit der Olympia-Verschiebung der Sommerspiele von Tokio um ein Jahr auf 2021 vor ihrer größten Herausforderung. „Es ist ein völliges Novum in der deutschen Sportgeschichte, dass man jetzt aus dem Zyklus raustritt und eine Regelung schaffen muss, die der neuen Situation gerecht wird“, sagt IAT-Direktor Ulf Tippelt der Deutschen Presse-Agentur.

 

„Es macht nur Sinn, den laufenden Olympia-Zyklus bis zum nächsten Sommer auszudehnen“, beschreibt Tippelt die Position des Instituts. Aus seiner Sicht müssten für alle Leistungssportler nun Regelungen getroffen werden, sodass sie zumindest in Kleingruppen trainieren können. „Und wenn Wettkämpfe wegfallen, muss man Äquivalente schaffen, damit sie Möglichkeiten haben, sich selber zu messen.“

Ausnahmen für Olympia-Kader

Zumindest Olympia-Kader dürfen mit Ausnahmeregelung des sächsischen Innenministeriums in Absprache mit den Olympiastützpunkten noch in Dresden, Leipzig und Chemnitz trainieren: So zum Beispiel Kanute Tom Liebscher und Kugelstoßer David Storl.

Es sei wichtig, „dem Eindruck vorzubeugen, die Leistungssportler machen mal bis zum Sommer eine Pause und dann können sie wieder anfangen“, betont Tippelt. Das werde nicht funktionieren. „Die Gefahr besteht, wenn die Corona-Krise länger währt, dass dann die Perspektive, die Leistungspyramide und der viele Jahre vollzogene Leistungsaufbau unterbrochen wird. Das wird unwiderrufliche Schäden nach sich ziehen“, warnt der Institutsdirektor.

IAT-Wissenschaftler Jürgen Wick, Leiter des Ausdauer-Fachbereichs, versucht, es bildlich darzustellen. „Ein fahrender Zug mit Höchstgeschwindigkeit ist bei voller Fahrt gestoppt worden. Kurzfristig müssen wir die Athleten auffangen, die von dem Hochgeschwindigkeitszug plötzlich abgesprungen sind“, betonte er und fügte an: „Alle Sportler benötigen Trainingsbedingungen, damit sie ihr Trainingslevel einigermaßen halten können. Sie können nicht plötzlich ihren hochtrainierten Körper stoppen.“

Zuletzt hatte das Internationale Olympische Komitee die Sommerspiele von Tokio um ein Jahr verschoben, sie sollen nun vom 23. Juli bis 8. August 2021 stattfinden. Athleten, die die Qualifikation bereits geschafft hatten, sollen ihr sportliches Ticket behalten. Damit gibt es zumindest in diesen Punkten Klarheit.

Viele Fragen offen

Doch die Wissenschaftler sehen noch zahlreiche offene Fragen. Es fehlen aber nun die Regelungen der internationalen Verbände, „wie man mit geplanten Weltcups, WM und EM plus Qualiturniere umgeht. Die Trainer warten auf Klarheit über einen neu ausgerichteten Wettkampfkalender. Dieses Prozess müssen wir mittelfristig realisieren“, sagt Wick.

Das IAT stellt den Athleten in der Corona-Krise Ideen und mediale Angebote für ein mögliches Training bereit. So zum Beispiel die so genannte Datenbank LIDA Tokio 2020. Darin werden aktuelle Erkenntnisse und Informationen zum Umgang mit Corona aus dem nationalen und internationalen Leistungssport dokumentiert.

Mentale Probleme

Wissenschaftler Wick sieht derzeit auch die duale Karriere der Sportler gefährdet. „Was man auch als Dimension betrachten muss, ist die emotionale und psychologische Komponente bei der ganzen Geschichte“, sagt er. Viele Athleten seien auf die Olympischen Spielen fixiert gewesen. Gerade im Ausdauerbereich hätten sie über mehrere Olympia-Zyklen Leistungen erbracht. „Für einige von ihnen sollte Tokio 2020 der Höhepunkt ihrer Karriere sein. Da sind viele Dinge, die jetzt mental zu bewältigen sind, um sich nun wieder zu motivieren“, betont er.

Dies gelte auch für das Gastgeberland Tokio. „Wir wissen noch nicht, welche finanziellen Auswirkungen die Corona-Krise für das japanische Sportsystem bedeutet“, sagt Kerstin Henschel, die beim IAT an den Weltstandsanalysen mitarbeitet. IAT-Direktor Tippelt erwartet die Japaner auch 2021 auf höchstem Level: „Sie mischen mit und bestimmen teilweise die Weltspitze, auch in Sportarten wo sie bisher nicht unbedingt zu sehen waren. Inwieweit es konservierbar ist über ein weiteres Jahr, da würde ich sagen: Das werden sie mit aller Kraft versuchen.“