Bundespräsident Steinmeier hat mit Befürwortern und Kritikern der Corona-Politik Meinungen ausgetauscht.

Berlin - Die Sonne strömt in den Großen Saal von Schloss Bellevue, die lange Tafel ist gedeckt mit süßen Häppchen im Glas. Hausherr Frank-Walter Steinmeier hat aber nicht nur zu einem harmlosen Kaffeeklatsch geladen – das lässt sich schon nach wenigen Minuten feststellen, als er durchaus ein wenig gekränkt aus einem Brief zitiert, den die Frau ihm gegenüber an das Staatsoberhaupt geschrieben hat. Sie bestreitet, nicht mit ihm persönlich, sondern mit Politik und Medizin allgemein abgerechnet zu haben, die Panikmache betreibe: „Die Menschen haben Angst ohne Ende.“ Steinmeier erwidert, dass das in einer Pandemie nicht ganz zu vermeiden ist. Willkommen im Corona-Deutschland des Jahres 2020!

 

Dieser Bundespräsident hat es sich zur Aufgabe, das gesellschaftliche Gespräch in Gang zu halten, was in den vergangenen Monaten nicht leichter geworden ist. „Je länger die Pandemie dauert, desto breiter ist der Graben geworden“, sagt Steinmeier zur Begrüßung der acht Gäste, mit denen seine Frau Elke Büdenbender und er über die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen sprechen wollen: „Wir reden über ein und dieselbe Realität, aber mit ganz unterschiedlichen Interpretationen.“

Die Idee stammt von einem Kinderbuchautor

Die Idee für das Corona-Gespräch stammt von Mario Jabs aus Elchingen bei Ulm. „Ich kenne viele Familien, die sind echt fertig“, sagt der Industriemeister und Kinderbuchautor in der Runde. Er wird dennoch später zufrieden den Tisch verlassen, weil er das so vortragen konnte, ganz verschiedene Sichtweisen aufeinandergeprallt sind und „am Bundespräsidenten nicht alles abgeprallt ist“. Eigentlich wünscht er sich für diesen Erfahrungs- und Meinungsaustausch aber einen größeren Rahmen. Wo der Ort für so einen Runden Tisch im Deutschlandformat wäre, fragt die First Lady nach. Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit schlägt vor, Steinmeiers Tafel als Vorbild für ähnliche Runden in den Bundesländern und Regionen der Republik zu nehmen: „Mit zunehmender Dauer der Pandemie müssen wir alle Interessen zum Ausgleich bringen.“

Die Bandbreite ist groß in Bellevue. „Umarmungen stärken das Immunsystem“, sagt die Frau, deren Mann zur Risikogruppe gehört, aber das Leben genießen will statt sich einzuschränken. Steinmeier verweist auf Spanien und Italien, wo es anders als in Deutschland dramatisch hohe Totenzahlen und eine echten Lockdown gab. Das deutsche Gesundheitssystem könne besser mit dem Coronavirus fertig werden, meint die Frau zusammen mit ihrer Nebensitzerin – auch ohne Maske.

Eng an eng im Klassenzimmer, aber mit Abstand in der Freizeit

Eine Berliner Schülervertreterin gibt Kontra. „Natürlich ist die Maske ein Ärgernis, ich sehe überhaupt nichts, wenn meine Brille beschlägt“, erzählt sie, „aber das ist ein Ärgernis, das ich gerne in Kauf nehme, um andere zu schützen.“ Sie ärgert sich vielmehr, dass sie vormittags eng an eng im Klassenzimmer sitzt und nachmittags in der Freizeit zu denselben Menschen auf Abstand gehen soll. Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, widerspricht auch nicht der Schilderung, wie unterschiedlich ernst die Pädagogen die Vorgaben nehmen. Und der Mediziner aus Heidelberg befürchtet ein böses Erwachen, da die Einschränkungen inzwischen zu lax gehandhabt würden.

Von laxen Regeln mag der Geschäftsführer des Hamburger Reeperbahn-Festivals nichts hören. Mit Mühe und Not und einem minutiösen Hygienekonzept hat er das Event am vergangenen Wochenende über die Bühne gebracht. Es geht um Existenz: Ausgelastet waren die einzelnen Veranstaltungen nur zu etwa 20 Prozent, ohne Staatshilfe geht es für die freien Künstler derzeit nicht. „Die Geduld ist bald zu Ende.“

Nach knapp zwei Stunden ist auch der Austausch mit dem ersten Mann im Staate zu Ende. Der hat aus seiner Meinung, dass die deutsche Politik angesichts der neuen Umstände nicht alles habe richtig machen können, aber doch vieles richtig gemacht habe, keinen Hehl gemacht.

Seine Erwartungen an die Corona-Runde bestanden dahingehend auch nur darin, „ob es gelingen kann zu einer Debatte zu kommen, in der man sich wenigstens gegenseitig zuhört“. Die gute Botschaft: Das immerhin ist an Frank-Walter Steinmeiers Kaffeetafel am Dienstag der Fall gewesen.