Immer mehr Menschen verbinden sich online, um anderen in der Corona-Krise praktische Hilfe zu leisten. Die Stadt will nun die Angebote bündeln.

Stuttgart - Niemand sollte derzeit Dankbarkeit durch eine Berührung zeigen. Wer zu einer Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Corona-Infektion gehört, dem steht bei strikter Selbstisolation nicht einmal ein Lächeln als Ausdrucksmittel zur Verfügung. Da bleiben nur noch Worte, die am Handy gesprochen werden.

 

Der 61 Jahre alte Jürgen Grieß wohnt an der Danneckerstraße in der Nähe vom Bopser. Er hat vorige Woche für eine 83-jährige Frau eingekauft. Sie möchte derzeit aufgrund ihres Alters im Moment ihre Wohnung nicht verlassen, erzählt er.

Grieß hat die Tüte mit den Einkäufen vor der Wohnungstür der Seniorin gestellt. Dort fand er eine Schale mit Geld vor. Er habe zuvor am Telefon mitgeteilt, wie viel die Lebensmittel gekostet haben und sie habe passend das Geld hinterlegt. Gesehen hätten sich die beiden nicht, betont er „Die Frau war aber total happy am Telefon, dass ich ihr geholfen habe“, sagt Grieß.

Anwohner verabreden sich online

Er hat sich mit sich mit elf anderen Mitstreitern im Heusteigviertel und angrenzenden Quartieren auf der Online-Plattform „nebenan.de“ verabredet, für Corona-Gefährdete aus der Nachbarschaft einzukaufen und weitere Erledigungen an der frischen Luft zu tätigen. Einige stehen auch für Gespräche mit noch unbekannten Nachbarn zur Verfügung, die einsam sind oder Ängste haben.

Die Gruppe hat sich in der vergangenen Woche digital gebildet. Sie wirbt inzwischen analog mit in Supermärkten ausgelegten Handzetteln für ihre Freiwilligendienste. Das Internet sei zwar nützlich, um schnell Helfer zu finden, meint der 43-jährige Mario Nowak. Er hat mit einem Eintrag in der vergangenen Woche die Nachbarschaftsgruppe im Heusteigviertel ins Leben gerufen. „Gerade diejenigen, die jetzt besonders Hilfe brauchen, die Älteren, sind aber nicht so viel online unterwegs“, erklärt Nowak.

Es gibt noch wenige Anfragen

Noch hielten sich die Anfragen nach Hilfe in Grenzen, meint Nowak. „Menschen sind soziale Wesen und ich verstehe, dass viele Ältere sich den Gang zum Supermarkt ungern abnehmen lassen, wenn sie sonst gar nicht mehr unter Menschen kommen“, meint er. Sollte sich die Krise weiter zuspitzen, rechnet Nowak aber mit bedeutend mehr Nachbarn, die künftig ihre Wohnung nicht mehr verlassen wollen.

Viele Netzwerke bilden sich

Ein Blick in die sozialen Netzwerke genügt für die Feststellung, dass die Nachbarschaftshilfe im Heusteigviertel bei weitem kein Unikum in Stuttgart ist. Gut eine Woche nach den ersten Beschränkungen für das öffentliche Leben will die Stadt die Angebote bündeln und bietet Beratung für Helfer an. Die Stadträte Hannes Rockenbauch und Luigi Pantisano haben die Gründung des Netzwerks „Stuttgart hilft“ angeregt. Es hat sich nun mit der Hilfsorganisation Stelp zusammengetan. Stelp unterstützt Menschen in Krisengebieten und Geflüchtete.

Laut Serkan Eren von Stelp ist nun ein dreistelliges Netz an Freiwilligen entstanden, das in mehreren Bezirken Stuttgarts praktische Hilfe für Menschen in der Quarantäne oder Selbstisolation leisten kann. Eren hat 2015 mit anderen eine Vorläuferorganisation von Stelp gegründet. Die Gruppe verteilte Hilfsgüter an Geflüchtete auf der Balkanroute. Stelp setzte die Projekte fort. Doch die Helfer von Stelp könnten zur Zeit ihre Einsatzgebiete im Ausland aufgrund der Pandemie nicht erreichen, erklärt Eren. Deshalb stünden die Kapazitäten nun für die Hilfe in Stuttgart zur Verfügung. „Ich hätte nie gedacht, dass das hier einmal nötig werden könnte“, sagt der Helfer.

Helfer werden vorbereitet

Wie bei allen Missionen würden die Freiwilligen auf ihre Tätigkeiten vorbereitet. Jeder, der jetzt in Stuttgart andere unterstützen will, sollte Abstands- und Hygieneregeln kennen, erläutert Eren. Auch Klaus Eger, Initiator der „Corona-Hilfe Stuttgart und Umgebung“ beschreibt sein derzeitiges Lebensgefühl als „surreal“. Der 29-Jährige aus Markgröningen (Kreis Ludwigsburg) ist ein Administrator der in der vergangenen Woche gegründeten Gruppe auf dem sozialen Netzwerk Facebook. Mittlerweile zählt sie 1800 Mitglieder, die ihre Hilfe anbieten.

Menschlichkeit macht Freude

Eger schildert, dass der Einsatz gegen eigene Ohnmachtsgefühle helfe. „Ich habe einen alten Gameboy einem Mädchen vor die Tür gelegt, die mit ihrer Mutter in Quarantäne ist. Die Mutter hat sich am Telefon bedankt, dass ist mehr wert als Geld“, sagt er. Eger hofft, dass sich viele auch über jetzige Krise hinaus die nun zu Tage tretende Solidarität bewahren können. „Viele haben ihre Menschlichkeit entdeckt und erkennen, wie viel Spaß es macht, anderen zu helfen“, sagt er.