Viele der berühmten Buchhändler an der Seine leben schon jetzt am Existenzminimum, doch nun kämpfen sie auch noch mit den Folgen der Pandemie

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Paris - Marie-Christine Thieblement ist müde vom Nichtstun. Seit dem Morgen sitzt die alte Dame am Quai des Grands Augustins in der milden Herbstsonne und wartet. „Ich verkaufe hier seit 30 Jahren Bücher, aber solch ein Elend habe ich noch nie erlebt“, sagt sie. „Es kommen nicht einmal Neugierige vorbei, um zu stöbern.“ Selbst zum Flanieren entlang der Seine sei den Menschen in diesen verrückten Zeiten nicht mehr zumute. „Und das in Paris, wo sich sonst das ganze Leben auf den Boulevards abspielt“, wundert sich Marie-Christine Thieblement und schüttelt den Kopf.

 

Ein schwarzes Jahr geht vorbei

Die Frau ist eine von exakt 227 Bouquinistes, die in Paris entlang des Seine-Ufers alte Bücher, Postkarten, Poster, Briefmarken und inzwischen vor allem auch allerlei Klimbim für die Touristen anbieten. Sind die großen grünen Boxen auf den Quai-Mauern rund um das Jahr ein Treffpunkt für Sammler und ein Muss für jeden Paris-Besucher, bietet sich in diesen Monaten ein äußerst trister Anblick. Die meisten Stände sind mit dicken Vorhängeschlössern verbarrikadiert. „Mal sehen, wie viele im Frühling wieder öffnen“, fragt sich Marie-Christine Thieblement und klagt im selben Atemzug über das hoffentlich bald zu Ende gehende „année blanche“ – ein verlorenes Jahr.

Wegen der strengen Corona-Beschränkungen mussten alle Bouquinistes im März ihre kleinen Geschäfte schließen, doch als sie nach knapp zwei Monaten die typischen grünen Holzverschläge, die Boîtes, wieder öffneten, fehlten wegen der internationalen Reisebeschränkungen die Touristen in der Stadt. „Die machen inzwischen Zweidrittel des Umsatzes aus“, sagt Jérôme Callais, der einen Stand am Quai de Conti besitzt. Der 60-Jährige ist eines jener Originale der Szene, die sich mit einem wildfremden Menschen stundenlang über Gott und die Welt unterhalten können – und er ist Präsident und Gründungsmitglied der Bouquinistes-Vereinigung in Paris. Die Schwierigkeit sei, sagt er, dass sich viele seiner Kollegen schon vorher kaum über Wasser halten konnten und oft noch einen zweiten Job hatten, doch nun sei für manche die Schmerzgrenze erreicht.

Eine kleine Rente hilft über die Runden

„Ich kann es mir nur erlauben hier zu sitzen, weil ich eine kleine Rente beziehe“, sagt Marie-Christine Thieblement, aber dass sie praktisch keine Einnahmen mehr aus dem Verkauf ihrer Kunstbücher hat, macht sich am Ende des Monats sehr schmerzlich bemerkbar. Ihr Problem ist, dass sie wegen ihrer Rente von ein paar Hundert Euro während der Corona-Pandemie keine Zuschüsse vom Staat bekomme, wie manche ihrer anderen Kollegen. Erst im Oktober hat die Regierung ein neues Programm zur Unterstützung kleiner Geschäfte aufgelegt, das einen Verdienstausfall von bis 1500 Euro pro Monat ausgleicht.

Die wenigen Bouquinistes, die im Moment noch auf den Quais an der Seine ausharren betonen, dass sie eigentlich keine Unterstützung vom Staat wollen, sie möchten einfach jeden Tag wieder ihre Klappen aufschließen und ihre Ware unter die Menschen bringen. Die Pandemie ist für diese Geringverdiener ein schwerer Schlag, doch keiner glaubt, dass das Ende ihrer Zunft gekommen sein könnte.

Ein Gewerbe mit einer langen Tradition

„Unsere Tradition reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück”, sagt Jean-Pierre Mathias mit einigem Stolz in der Stimme und setzt sich auf eine Parkbank vor seiner Boîte am Quai de Conti. Das bedeutet, dass seine Ausführungen nun etwas länger dauern werden. Denn wie viele der Händler, besitzt auch er nicht nur eine profunde Kenntnis der Geschichte, sondern verfügt auch über die Gabe, dieses Wissen äußerst eloquent zu vermitteln. In den Anfangszeiten hätten sich die Buchhändler ihre Kisten noch vor den Bauch geschnallt und an der Pont Neuf auf Kunden gewartet – und das nicht immer zum Wohlwollen der Herrschenden, erzählt Jean-Pierre Mathias. Denn manche verteilten bisweilen auch revolutionäre Flugblätter unterm Volk. Unter Napoleon bekamen die Händler schließlich feste Plätze an den Quais der Seine zugewiesen, die schnell zu Anlaufpunkten für Studenten und Intellektuelle wurden.

Heute noch sind die meisten Bouquinistes sehr spezielle Menschen und oft auch wandelnde Enzyklopädien. Wer ein besonderes Buch sucht, eine Frage zu einem ausgefallenen Kinoplakat oder einer seltenen Postkarte hat, wird bisweilen entlang der Quais von einem Fachmann um anderen geschickt - aber am Ende auf jeden Fall fündig. Bouquinistes-Präsident Jérôme Callais hält seine Zunft sogar für ein schützenswertes Kulturgut und hat die Aufnahme der Antiquariate an der Seine auf die Unesco-Liste der Weltkulturerbe angeregt – bis jetzt wartet er allerdings vergeblich auf einen positiven Bescheid.

Der Nachwuchs der Bouquinistes ist gesichert

Anders als viele Gewerbe braucht sich diese verschworene Gemeinde keine Sorgen über den Nachwuchs zu machen. Die grünen Bücherkisten scheinen für viele noch immer eine magische Anziehungskraft zu haben. Immer wieder stoßen neue und junge Gesichter dazu, die dann auch das Angebot verändern. Neben antiquarischen Büchern und den unvermeidlichen Mona-Lisa-Kaffeetassen und Eiffelturm-Anhänger sind inzwischen auch Punk-Literatur oder moderne Comic-Ausgaben zu finden.

Was alle Bouquinistes allerdings gemein haben, ist eine gewisse Stoik, die sich beim Warten auf Kunden bei Wind und Wetter über die Jahrzehnte offensichtlich unweigerlich ausbildet. So plädiert etwa Jean-Pierre Mathias dafür – er ist übrigens ein unübertroffener Fachmann in Sachen Werbe- und Kinoplakate – die Pandemie ruhig an sich vorbeigleiten zu lassen. „Es wird ein Impfstoff gefunden, die Menschen werden zurückkehren und diese ungute Zeit schnell wieder vergessen“, prophezeit der Mann, der seit 40 Jahren an der Seine Bücher verkauft. So sei das immer gewesen und so werde das auch jetzt wieder sein.