Stuttgart - Den Tod von Menschen zu verhindern ist das oberste Ziel in der Pandemiebekämpfung. Das ist richtig – aber es reicht nicht. Wenn die Gesellschaft nicht stärker als bisher die seelischen Schäden der Pandemiebekämpfung in den Blick nimmt, wird sie dafür einen hohen Preis zahlen. Bei den politischen Maßnahmen geht es vor allem darum, die körperliche Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Dabei sind in der Coronapandemie längst auch Menschen mit psychischen Erkrankungen bedroht. Es wird Zeit, sich ihnen zu widmen.
Psychische Erkrankungen schwächen nicht nur die mentale Widerstandskraft, sondern bringen auch massive Beeinträchtigungen der Lebensqualität mit sich und können auch unser Immunsystem immens schwächen. Körperliche Erkrankungen sind oft die Folge. Dies ist kein zu vernachlässigendes Problem, mit dem jeder Bürger selbst zurechtkommen muss.
Sport, soziale Kontakte, Hobbys – vieles ist uns weggebrochen
Viele Dinge, die uns körperlich und psychisch gesund halten, sind schon über einen zu langen Zeitraum verboten. Die massiven Einschränkungen unseres Alltags – kein Sport, kaum soziale Kontakte – verschlimmern bestehende psychische Krankheiten oder begünstigen deren Entstehung. Einsamkeit und Existenzangst machen den Menschen extrem zu schaffen. Keiner weiß, wann das alles endet. Diese Unsicherheit geht an niemandem spurlos vorüber. Am schlimmsten aber geht es jenen, deren Lebensfundament schon vor der Pandemie Risse zeigte.
Die Weltgesundheitsorganisation mahnt, die Psyche sei „ein vergessener Aspekt von Covid-19“. Die Krankheitstage sind gestiegen, Kinder- und Jugendpsychiatrien klagen über so viele Notfälle wie noch nie. Die Politik hat die psychischen Auswirkungen dieser Krise offensichtlich bislang kaum im Blick. Seit zehn Monaten versucht man, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Und am Ende dieser Lernkurve blieb nur ein härterer Lockdown, der Familien, besonders Alleinerziehende, aber auch Alleinlebende und psychisch Erkrankte an die Belastungsgrenze bringt.
Die Ausgangssperre trifft vor allem Alleinlebende sehr hart
Die Bürger werden mit den Folgen alleine gelassen. Ihr soziales Umfeld wird es schon richten, offenbar in der Annahme, dass fast alle Menschen in der bürgerlichen Kleinfamilie leben. Doch das ist längst nicht mehr Realität. Der Anteil der Single-Haushalte in Deutschland lag 2019 bei 42 Prozent. Hinzu kommt, dass Maßnahmen, die Alleinlebende besonders treffen, nächtliche Ausgangssperren etwa, bei der Virusbekämpfung eher eine untergeordnete Rolle spielen. Selbst der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält sie „maximal drei Wochen“ für tragbar. Doch statt die Wirkung solcher Maßnahmen regelmäßig zu überprüfen, beschwört die Regierung den großen Zusammenhalt – und lässt doch viele jeden Tag alleine.
Spazieren oder Schlittenfahren sind keine Treiber der Pandemie
Man macht die Bürger zum Sündenbock, um die eigene Ratlosigkeit zu vertuschen. Lieber kontrolliert man Bürger, die abends noch an die frische Luft wollen, oder Familien, die ein bisschen Schlitten fahren, als die eigenen Maßnahmen anzupassen. In der öffentlichen Debatte wird akribisch darauf geachtet, ob andere vielleicht etwas nicht ganz richtig machen. Das ist nicht nur zwischenmenschlich recht fragwürdig, derartige pseudomoralische Auswüchse können auch auf Dauer das Klima in einer demokratischen Gesellschaft vergiften.
Daher müsste eine nachhaltige Pandemiepolitik darauf achten, dass vulnerable Gruppen, eben auch psychisch Erkrankte, mehr Gehör finden und psychologische Experten als Berater in die Entscheidungen der Regierung miteinbezogen werden. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte zu Beginn der Pandemie: „So ein Virus ist nicht gerecht.“ Doch es ist die Aufgabe der Politik, diesen Kampf möglichst gerecht zu gestalten.