Seitdem die Impfreihenfolge in den Arztpraxen aufgehoben ist, werden die Hausärzte von Anfragen überrannt. Manch einer denkt daran, sich aus der Kampagne zurückzuziehen.

Göppingen - Seit Montag ist die Impfreihenfolge im Land in den Arztpraxen aufgehoben. Tausende Menschen fiebern ihrem Impftermin entgegen, hoffen auf Urlaub mit der Familie und auf mehr Freiheiten nach monatelangen Entbehrungen. Oft endet diese Erwartungshaltung jedoch mit Enttäuschung. „Wir bekommen oft den geballten Frust ab. Die Leute fragen uns, warum wir so langsam impfen“, berichtet Ursula Seltenreich, die mit Gerhard Mutschler in Rechberghausen eine Gemeinschaftspraxis betreibt.

 

Die Schwierigkeit bestehe darin, dass die Menge der Impfdosen extrem variiere – mal gebe es 96, mal nur 18 Dosen, die am Montagabend für die laufende Woche geliefert werden. Die Terminvergabe sei da äußerst schwierig, unterstreicht die Allgemeinmedizinerin. Die Termine seien doppelt besetzt, die freien Nachmittage zu Impfnachmittagen geworden. „Wir tun das, was wir tun können“, sagt die Hausärztin. „Aber es gibt ja auch noch die anderen kranken Patienten.“ Das Schöne wiederum sei, dass manche Patienten sehr glücklich seien, die Spritze in ihrer Praxis zu bekommen – nach vielen vergeblichen Versuchen, online oder über die Hotline einen Termin zu ergattern. Die Aufhebung der Priorisierung findet Seltenreich gut: „Der ältere Kranke bekommt natürlich eher die Impfung als der junge Gesunde. Das darf man uns schon überlassen.“

Zornige Patienten lassen Frust am Personal aus

Ähnlich sieht es Ulrich Volk, Allgemeinarzt aus Geislingen: „Grundsätzlich finden wir alles gut, das dazu beiträgt, dass mehr Leute geimpft werden.“ Der Hausarzt kenne seine Patienten und priorisiere dementsprechend. Problem sei jedoch, dass nicht genügend Impfstoff vorhanden sei. „Wenn sich mehr Leute melden, wird die Mangelsituation natürlich verschärft“, sagt Volk. Für Juni sei jedoch eine Verdopplung der Impfdosen angekündigt, „da entspannt sich die Lage“. Zornigen Patienten begegnet der Arzt mit einer Portion Pragmatismus: „Unzufriedene und Frustrierte gab es schon immer, auch vor der Priorisierung. Von denen lassen wir uns nicht beirren.“

Internist Stefan Vollmer erlebt Aggressivität tagtäglich in seiner Hohenstaufenpraxis in Wäschenbeuren. Anfangs seien besonders ältere Menschen sehr dankbar gewesen, dass sie sich vor Ort in ihrer Praxis impfen lassen konnten. Doch die Stimmung sei umgeschlagen. Einige Patienten seien dünnhäutig geworden und ließen ihren Frust am Praxispersonal aus, wenn ein Impftermin erst in einigen Wochen möglich ist. „Wir kämpfen am Anschlag. Viele Kollegen überlegen sich, ob sie mit dem Impfen aufhören“, sagt Vollmer. Impfstoff sei mittlerweile genügend da, sagt der Praxisinhaber, doch der Aufwand drumherum – vom Aufziehen der Spritze über die Aufklärung bis hin zur Dokumentation – sei enorm und nur mit dem großen Engagement seiner Mitarbeiter zu leisten. „Dramatisch würde die Sache, wenn die Praxen auch noch den digitalen Impfnachweis ausfüllen müssten“, fügt der Internist hinzu.

Noch immer fehlt der Impfstoff

Frank Genske, Vorsitzender der Kreisärzteschaft, sieht in der Aufhebung der Impfreihenfolge „einen wichtigen und guten Schritt“, der schon viel früher hätte umgesetzt werden müssen: „Da hätte man sich viele Diskussionen und Enttäuschungen erspart.“ Das Problem sei jedoch weiterhin der Impfstoffmangel: „Das ist ja nicht ad acta gelegt durch die Aufhebung.“ Seit Januar werde für jeden Monat mehr Impfstoff versprochen, „man glaubt es nicht mehr“, sagt Genske. Der Kreisärztechef glaubt nicht, dass sich Arztpraxen in großem Stil von der Covid-Impfkampagne abmelden. „Aber es kann nicht sein, dass wir zu Prügelknaben werden“, betont er. „Impfen gehört nicht verpflichtend zu unserem Versorgungsauftrag, das machen wir gerne, aber on top.“

Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg bestätigt, dass viele niedergelassene Ärzte derzeit am Limit sind: „Viele Hausärzte melden uns, dass die Praxen überrannt werden und teilweise heftig beschimpft werden. Dabei steht einfach nicht ausreichend Impfstoff zur Verfügung“, sagt Pressesprecher Kai Sonntag. Gibt es denn Hinweise, dass sich Praxen aus der Impfkampagne zurückziehen wollen? „Das gibt es sicherlich in Teilen“.