Coronaprotest in Stuttgart Grenzenloser Ärger über die Maskenlosen

Ein Demozug mit etwa 10 000 Teilnehmern zieht am Samstag durch die Stadt zum Cannstatter Wasen. Dort kommen fast 15 000 zur Kundgebung. Maskenpflicht und Abstandsgebot halten sie größtenteils nicht ein. Foto: imago /Arnulf Hettrich

Dass etwa 15 000 Demonstranten den Infektionsschutz komplett ignorieren, stößt in der Bevölkerung und bei Politikern auf Unverständnis und blankes Entsetzen. Die Grünen fordern eine Sondersitzung des Innenausschusses im Landtag dazu.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Stuttgart ist sauer. Stinksauer. Am Wochenende drehen sich die Gespräche beim Osterfrühstück und in den sozialen Netzwerken früher oder später um ein Thema: Wie konnte das passieren, wie konnte die Stadt das zulassen? Da ziehen etwa 15 000 Demonstranten ohne Masken und Abstand durch die Stadt, und keiner kann oder will sie stoppen – das ist der Eindruck, den besorgte Menschen vom Samstag haben, von der bislang größten Demonstration der sogenannten Querdenker in einer Hochphase der Coronapandemie. Und mehr noch, eine Gegendemo, organisiert vom Antifaschistischen Aktionsbündnis, wird aufgelöst, und die Teilnehmenden, allesamt mit Maske ausgestattet und auf Abstand bedacht, erhalten Platzverweise. Da hört am Wochenende selbst bei jenen, die keinesfalls mit der Antifa sympathisieren, das Verständnis auf. Auch der Stadtrat Christoph Ozasek (Linksbündnis) ärgert sich über die Auflösung der Gegendemo: „Das ist ein für Stuttgart typisches Verhalten“, sagt er.

 

SPD: Der Ordnungsbürgermeister soll zurücktreten

Noch am Wochenende werden erste Rufe nach politischen Konsequenzen laut. Der SPD-Kreisvorsitzende Dejan Perc wird deutlich: „Das Bild das Stuttgart abgeben hat, ist beschämend. Der zuständige Bürgermeister für Sicherheit und Ordnung, Dr. Clemens Maier, muss dafür die Verantwortung übernehmen und zurücktreten“, sagt Perc. Besonders übel stößt den Sozialdemokraten auf, dass der Ordnungsbürgermeister in einer Stellungnahme am Samstag sagte: „Ich bin erleichtert, dass der Tag bislang weitestgehend friedlich verlaufen ist.“ Dazu Perc: „Tausende Demonstrierende treffen sich unter bewusster Missachtung der Hygiene- und Abstandsregeln. Dazu fällt der Stadtspitze in Person des Ordnungsbürgermeisters nichts anderes ein, als den friedlichen Verlauf zu loben?“

Wer eine Maske trägt, wird angeschrien

Die Bilder aus Stuttgart seien nicht schön, aber kein Vergleich zu denen aus Kassel oder Brüssel, wo es am Rande von ähnlichen Demos zu gewalttätigen Konflikten gekommen war, argumentiert Clemens Maier. Die Bilder, das sind die eines Demozugs, der am Marienplatz startet. Dort treffen sich schon am Samstagvormittag mehrere Hundert Impfgegner, Coronaleugner und „Querdenker“. Mit einer Trommelgruppe ziehen sie durch die Stadt, unterwegs schließen sich mehr und mehr Menschen an „Ohne Abstand und ohne Anstand“, beschreibt der Innenminister Thomas Strobl CDU) das Verhalten. Fast niemand trägt einen Mund-Nasen-Schutz, wie es die Stadt in ihren Auflagen verfügt hat. Schnell wird klar: Wer Maske trägt, gehört nicht dazu, ist „Feind“ in den Augen der Demonstrierenden, also entweder Polizist oder Journalist. Wer Maske trägt, wird angepöbelt, übers Megafon als „Feigling“ angeschrien und im schlimmsten Fall sogar angegriffen. So ergeht es dem freien Journalisten David Peters aus Dortmund, der an der Cannstatter Straße vom Rand aus den Protestzug beobachtet. Ein Demonstrant geht auf den jungen Reporter zu, der zurückweicht, er schreit ihn an und verpasst ihm eine Ohrfeige. Seine Kumpels rufen ihm zu, er solle aufhören, „der ist es nicht wert“, da geht er zurück zur Menge. Die Polizei nimmt ihn später fest. Auf dem Wasen feiern sich die Maskenlosen. „Umarmbar“, steht auf ihren Buttons. Während andere auf ein größeres Familienfest zu Ostern verzichten, tanzen, singen sie, liegen sich in den Armen. Für die Stuttgarter Ratsfraktion der Grünen sind solche Szenen „ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich an Regeln halten, in Kliniken und Praxen ihren Dienst tun oder an Covid-19 erkrankt waren oder sind und den Angehörigen der Menschen, die an dieser Krankheit verstorben sind“. Ulrich Sckerl fordert im Namen der Grünen im Landtag eine „lückenlose Aufklärung“. SPD und FDP fordern eine Sondersitzung des Innenausschusses.

Polizei spricht von „unbefriedigendem“ Einsatz

Die Polizei lässt die Menge feiern. Zu groß sei sie, meint der Einsatzleiter Carsten Höfler, um die Coronaregeln durchsetzen zu können. „Wenn wir reingehen, kommt es zu einer Verdichtung, und die erhöht das Infektionsrisiko“, sagt Höfler. Am Abend zieht er Bilanz: Die Demo sei „weitgehend friedlich verlaufen“, wobei er das nicht falsch versanden wissen will: Mit „friedlich“ meint er, dass der Demozug sicher zum Wasen geleitet werden konnte. Die Coronaverstöße habe die Polizei natürlich auch beobachtet. Sie habe auch versucht, mit Durchsagen und vereinzelten Anzeigen dagegen vorzugehen. Stand Samstag waren rund 250 „Querdenker“ wegen Ordnungswidrigkeiten angezeigt worden, es dürften noch mehr werden.

„Wir müssen abwägen zwischen dem Infektionsschutz und der Versammlungsfreiheit“, sagt Höfler. Die Versammlung stehe unter einem hohen Schutz, deswegen musste die Polizei die von der Stadt nicht verbotene Demo begleiten und ermöglichen – dazu zählen etwa Straßensperrungen. Am Ende des Tages findet Carsten Höfler – ungewöhnlich für einen Polizeiführer – klare Worte: „Der Einsatz war insofern für uns natürlich sehr unbefriedigend.“ Mit „Robustheit und Härte“ könne man in eine so große Menge nicht gehen. Das wäre auch im Fall einer Auflösung der Demo ein Problem gewesen – für 1100 Beamte wäre es schwierig geworden, 15 000 Personen vom Platz zu bewegen, so schätzt es die Polizei ein.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft kritisiert die Stadt

Kritik an der Stadt kommt auch von der Deutschen Polizeigewerkschaft. „Offensichtlich scheint es ein Missverständnis zu geben, wenn die Stuttgarter Stadtverwaltung und damit die Versammlungsbehörde sich um klare Entscheidungen drückt und der Polizei dann den Mist vor die Füße kippt“, sagte deren Landesvorsitzender Ralf Kusterer.

Im Nachgang sind nun viele Fragen zu beantworten. Die zentrale: Warum hat die Verwaltung nicht versucht, die Versammlung zu verbieten, warum ließ sie es nicht auf ein Gerichtsverfahren ankommen, so wie es andere Kommunen getan haben? Die Stadt Weil am Rhein hatte ein Demoverbot mit dem Infektionsrisiko begründet und das vom Bundesverfassungsgericht im Dezember bestätigt bekommen. Auch in Dresden hatte das kurz davor geklappt. Jetzt wird in der Stadt heftig diskutiert: warum nicht in Stuttgart?

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