Soziale Einrichtungen in Stuttgart haben die ganze Zeit geöffnet. Denn gerade in der Krise ist der Bedarf an psychologischer Unterstützung sehr groß. Die Mitarbeiter des Gesundheitsladen beobachten einen vermehrten Gesprächsbedarf. Viele Jugendlichen klagen über Stresssymptome.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

S-West - Vor allem Jungs hätten sich am Anfang schwer getan. Nach den Schulschließungen und den vielen Einschränkungen im sozialen Umfeld durch die Corona-Verordnungen hätten mehr Jungen mit ihren Eltern die Beratungsstelle Jungen im Blick aufgesucht, sagt Dagmar Preiß, Geschäftsführerin des Vereins Gesundheitsladen im Stuttgarter Westen. „Die Jungs zu Hause zu halten, war wohl wirklich schwer“, so Preiß. Es sei häufig zu aggressiven Handlungen in Familien gekommen. Die Mädchen hingegen litten vor allem darunter, ihre gleichaltrigen Freundinnen und Freunde nicht mehr sehen zu können. Einigen ging es aber durch die Schulschließung sogar überraschend besser: „Eine Klientin war wegen Stresssymptomen bei uns. Sie hatte sich schon immer die Fingernägel blutig gekaut. Das ging dann ohne die Schule völlig zurück“, erzählt Preiß, die Sozialwissenschaftlerin, Coach und systemische Therapeutin ist.

 

Ansprechpartner in sozialen Einrichtungen sind auch in der Krise da

Unter dem Dach der sozialen Einrichtung Gesundheitsladen Stuttgart gibt es den Mädchengesundheitsladen, Jungen im Blick und Abas, die Anlaufstelle bei Essstörungen. Vor allem für junge Menschen mit einem schwierigen sozialen Umfeld oder psychischen Erkrankungen ist die derzeitige Krisensituation noch einmal eine größere Herausforderung. Die Einrichtungen sind derzeit als Ansprechpartner für Hilfesuchende da – unabhängig von der Pandemie-Situation.

„Immer wieder gibt es Unsicherheiten, wer in dieser Krisenzeit als kompetenter Ansprechpartner überhaupt erreichbar ist“, sagt die Sozialpädagogin Marianne Sieler, die für die Anlaufstelle für Essstörungen (Abas) zuständig ist. Per E-Mail, Telefon oder – unter strengen hygienischen Auflagen – können sich Mädchen und Jungen dort jederzeit melden, wenn sie Probleme haben. Weil die Einrichtung derzeit keine Präventionsarbeit an Schulen durchführt, sind auch mehr Kapazitäten für die Beratungsgespräche vorhanden, sagt Preiß.

In manchen Familien nimmt die Gewalt zu – auch Jungs werden schneller aggressiv

In den letzten zwei Wochen ist die Nachfrage bei der sozialen Einrichtung im Westen noch einmal gestiegen. Der Hilfebedarf sei groß. „Wenn es zu Hause schwierig ist, fällt das nun vermehrt auf“, sagt Preiß. So hätten Kindern von psychisch kranken Eltern sonst immer ihre Rückzugsorte durch Schule, Freunde und Hobbys. Das falle nun weg. „Auch die Gewalt nimmt zu“, weiß Preiß aus dem Beratungsalltag. Für viele dauerten die Einschränkungen schon zu lange an. „Viele Kinder und Jugendliche wünschen sich ihren Alltag zurück.“ Wenn es in Familien zu Aggressionen komme, bietet der Gesundheitsladen auch sofort ein Familiengespräch an. Man habe einen festen Ablaufplan, um deeskalierend zu wirken – unabhängig von Corona. „Das hat jetzt aber in der Zeit in allen Familien, die wir betreut haben, gut geklappt“, sagt Preiß.

Problematisch sieht sie, dass in einigen Familien, die in ihrem Haus betreut werden, es oft so sei, dass die Eltern ihrer Arbeit nachgingen, der Vater mal zum Baumarkt fahre, während die Kinder immer zu Hause bleiben müssten. „Die Jugendlichen können die Krankheit schon gut einschätzen, aber sie sehen dann oft, dass die Erwachsenen machen, was sie wollen“, sagt Preiß. „In vielen Familien ist es tatsächlich so, dass nur die Kinder vorwiegend zu Hause sind.“ Das sei sehr schwierig, weil gerade Jugendlichen den Kontakt zu Gleichaltrigen unbedingt für ihre Entwicklung bräuchten.

Mädchen fehlen die Freunde, Jungs der Sport

Aus den Rückmeldungen der Jugendlichen wissen die Mitarbeiter des Gesundheitsladen, dass viele durch die massiven Einschränkungen unter Stresssymptomen leiden. Vor allem die Mädchen gaben an, dass es ihnen schwer falle, sich selbst eine Tagesstruktur zu geben und das Homeschooling zu organisieren, sagt Marianne Sieler. Die Folgen seien Schlafprobleme, zunehmende Nachdenklichkeit und Ängste. Vor allem klagten die Mädchen über fehlende Rückzugsmöglichkeiten in der häuslichen Umgebung. „Sie haben kaum ein Eigenleben“, sagt Sieler.

Jungs wiederum neigten hingegen zu einem exzessiven Medienkonsum, um die fehlenden sozialen Kontakte auszugleichen. Ihnen fehle vor allem der Sport.